Foto: Jan Ehlers
Foto: Jan Ehlers

Habt Ihr Euch schon einmal ganz genau im Spiegel betrachtet, mal so ganz nah angesehen und tief in die Augen geschaut? Ganz tief? Habt Ihr schon einmal in Euch reingesehen und hat Euch nicht gefallen, was Ihr da gesehen habt? Was zum Vorschein kam, was zurückgeglubscht hat? Euer Inneres, Euer Leben und was Ihr daraus gemacht habt – hat das Euch schon einmal angestarrt und gleichzeitig angewidert? Wie in einem Film, in dem sich der Betrüger und Fremdgeher am nächsten Morgen im Spiegel ansieht … nur mit dem Unterschied, dass in Eurem Falle gar nichts vorgefallen ist und Ihr Euch normalerweise ganz gut leiden könnt? Seid Ihr Euch richtig selbst begegnet und hattet den Mut, Euch zu stellen und den eigenen, verachtenden Blick zu erwidern?

Ich weiß nicht, was an dem Abend mit mir los war. Aber als ich aus der Toilettenkabine in den kleinen Vorraum des Darmstädter Künstlerkellers im Schloss trat, um mir die Hände zu waschen, kam ich mir plötzlich vor wie in Hermann Hesses „Magischem Theater“. Ein Zitat kam mir in den Sinn: „Zaubertheater nur für Verrückte“. So düster, so surreal, weinrote Wände, ein Spiegel links, ein Spiegel gerade aus, verziert mit goldenen Rahmen. Alte Spiegel, in denen viel gesehen wurde, Spiegel, die viel gesehen haben, Gutes und Heiterkeit, aber auch Schlechtes, miese besoffene Fratzen, Einsamkeit und Gefallsucht.

Normalerweise schaue ich nicht allzu lange in fremde Spiegel, doch mein Spiegelbild schien mich diesmal aufzufordern, geradezu herauszufordern, mich ihm zustellen. Manchmal denkt man gar nicht darüber nach, wie man aussieht, und dann gibt es andere Abende, an denen man sich viele Gedanken um sein Äußeres macht. Dieser Abend war nicht so, keine Sekunde hatte ich mir über mein Äußeres, über Gesicht und Haare Gedanken gemacht und doch war es wohl der beschissenste bad hair day bis dahin. Irgendwie war mein Spiegelbild doch anders, eben nicht so, wie ich mich, seitdem ich eben als Kind in den Spiegel schaue und mich selbst erkenne, in Erinnerung hatte. Nebenbei bemerkt waren keinerlei bewusstseinserweiternde Drogen im Spiel, auch kein Absinth oder Ähnliches. Trotzdem: Das Zeitgefühl war mir verloren gegangen, ich weiß, nicht wie lange oder wie viele Augenblicke dieses Rauschgefühl anhielt. Es gab keine Gedanken mehr.

Vielleicht dauerte die Szenerie einige Sekunden, vielleicht sogar Minuten, bevor ich völlig verstört an den Tisch zurückkehrte. Alle fröhlich, eine lustige und seltene Runde. Doch meine Fröhlichkeit war mir vergangen, desillusioniert und gleichzeitig zu erschöpft, um zu gehen.

In der anschließenden Nacht zum Montag schlief ich schlecht und am Tag hatte ich Herzrasen. Mein Körper schien zu beben, zu vibrieren – unangenehm und nicht zu beeinflussen. Ich war nicht mehr ich, meine Persönlichkeit war aufgelöst im Festrausch wie Salz im Wasser. Ich weinte und musste kurz darauf über einen unsinnigen Facebookpost hysterisch lachen. Ich war ein Nervenbündel, eine dahin vegetierende Katastrophe. So etwas kann passieren. Oder doch nur mir? Die Feste so feiern, wie sie fallen. Und anschließenden Tiefen überstehen. Irgendwie. Seit damals, im Künstlerkeller, weiß ich, wer ich bin. Ich habe mich gesehen.

Vorsicht: nur für Verrückte. Eintritt kostet den Verstand. Nicht für Jedermann. Öffnungszeiten: Di bis So, jeweils 20 bis (etwa) 06 Uhr.

Ihr lest den Montagsgedanken: Tagebuch eines DJs. Mein Name ist Doris Vöglin.