Sarah und Volker Knöll mit ihren Kindern Rebekka, Lukas und Noah, rechts: Doris von der Felsen und Selma Dogan | Foto: Cora Trinkaus

Es ist ein sonniger Tag, die Kinder spielen im Innenhof, schaukeln auf der neuen Netzschaukel oder spielen Fußball auf dem Rasen. In der Mitte des Innenhofs ein Rondell mit Bänken und einer Feuerschale. Ein geschützter Bereich, in dem Kinder unbeschwert spielen und toben können, inmitten der Lincoln-Siedlung.

Seit 2014 erwacht die ehemalige Kaserne der US-Soldaten und ihrer Angehörigen wieder langsam zum Leben. Nach und nach wird auf der Fläche neuer Wohnraum geschaffen: in 1954 errichteten, nun frisch sanierten Häusern oder in Neubauten, für bis zu 5.000 Menschen, inklusive einer Grundschule, einer Kindertagesstätte, sozialen Einrichtungen sowie Spiel- und Erholungsflächen.

Gleich drei gemeinschaftliche Wohnprojekte liegen hier dicht beieinander: das Zusammenhaus Lincoln, das Heinersyndikat und – daran angrenzend – Wohnsinn Bessungen.

Wohnsinn Bessungen

Vor knapp einem Jahr wurde der Neubau fertiggestellt und das Wohnsinn-Gebäude in der Lincoln-Siedlung bezogen. „Von der Planungsphase bis zum Einzug vergingen vier Jahre“, erzählt Doris von der Felsen, die mit 76 Jahren die älteste Bewohnerin im Haus ist. Selma Dogan stieß 2017 dazu: „Da gab es alles nur auf dem Papier, aber wir konnten uns langsam kennenlernen. Die Gruppe wuchs und wuchs, man hat sich oft getroffen, ist zusammen wandern gewesen.“ Der gemeinsame Start in Corona-Zeiten sei eher schwierig gewesen, erzählt Sarah Knöll, die hier mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt: „Viele hat man in dieser Zeit nur über Zoom kennengelernt. Etwa ein Drittel der Bewohner kam während der Corona-Phase noch dazu.“ Die Kerngruppe, die das Projekt auf den Weg gebraucht hatte, war am Anfang eher „Ü 60“, also über 60 Jahre alt. „Erst nach und nach kamen Familien mit Kindern und andere Bewohner:innen dazu“, so Sarah.

Foto: Cora Trinkaus

Eigeninitiative und Diversität

In der Lincoln-Siedlung entstand – nach zwei Häusern in Kranichstein – das dritte gemeinschaftliche Wohnprojekt der Wohnsinn Bau- und Wohngenossenschaft eG. Im L-förmigen Passivhaus gibt es nun 43 genossenschaftliche Mietwohnungen, ein Drittel davon sind öffentlich bezuschusste Sozialwohnungen. Knapp 100 Bewohner:innen leben nun bei Wohnsinn Bessungen, darunter um die 30 Kinder. Jede Wohnung besitzt einen eigenen Balkon. Es gibt einige Wohnungen, die barrierefrei geplant wurden. Außerdem gibt es auch Möglichkeiten, Wohnungen zusammenzulegen. Auch der Nachhaltigkeitsaspekt spielt bei Wohnsinn Bessungen eine große Rolle.

Wer hier wohnen möchte, muss viel Eigeninitiative mitbringen und zum Konzept passen. Alle vier Wochen findet ein Plenum statt, in dem wichtige Dinge besprochen und abgestimmt werden. In jeder Wohneinheit muss mindestens ein Genossenschaftsmitglied sein. In den hausinternen Arbeitsgruppen kümmern sich die Bewohner:innen um die Gebäude- und Außenanlagen, die Bewirtung der Gemeinschaftsräume, die Verwaltung und das Gemeinschaftsleben. Jeder soll hier einen Beitrag leisten. Ihr gemeinsames Ziel: Ein gemeinschaftliches Zusammenleben von Alt und Jung, Familien, Alleinerziehenden und Singles, mit in- und ausländischen Wurzeln, mit und ohne Behinderung.

Diese Idee soll nicht nur in Wohnsinn Bessungen gelebt werden, sondern sich auf das ganze Viertel ausweiten. „Es war wichtig für die Wohnprojekte auf Lincoln, dass sie auch etwas für das Viertel machen, nicht nur für sich selbst. Ein Wohnprojekt wie unseres hat eine gewisse Strahlkraft“, sagt Volker, der beruflich in der Gemeinwesenarbeit tätig ist. So entstehe zum Beispiel ein „Backofen Verein“: Im Hof wird ein Backofen aufgestellt, dort soll es mal Backevents geben. „Das geht nicht allein von Wohnsinn aus, es sind noch ganz viele andere beteiligt.“ Aber es brauche solche Initialzündungen, „damit viele von denen, die hier wohnen und wohnen werden, daran teilhaben können.“ Die Botschaft: Es braucht diese Initiatoren und das bürgerschaftliche Engagement – „dann kommen in der Regel die Träger hinterher – oder die Städte und Kommunen“, ist sich Volker sicher.

Foto: Cora Trinkaus

Entlastung für Selma

Selma hatte schon lange Zeit eine neue Wohnung gesucht, da die alte für sie und ihren Sohn viel zu klein war. Doch es ist schwer für eine alleinerziehende Mutter, bezahlbaren Wohnraum in Darmstadt zu finden. Die Haupt- und Realschullehrerin hatte von einem Freund vom Projekt Wohnsinn gehört und fand die Idee „einfach super, dass es ein Dorf in einem Haus ist und man nicht anonym in der Stadt lebt. Ich bin hier eingezogen und fühle mich als Alleinerziehende nicht allein gelassen, kann jederzeit jemanden zur Hilfe holen. Mein Sohn muss nur aus der Tür gehen und findet im Haus Kinder zum Spielen. Das entlastet auch um einiges.“ Im Verhältnis zu anderen Wohnungen dieser Größe in Darmstadt sei es auch günstiger, hier zu wohnen. „Es ist schon ein großes Vertrauensverhältnis da. Man kennt eigentlich schon jede Wohnung und hat einen Überblick, wer wo wohnt“, berichtet Selma.

Teilen statt besitzen

Die sogenannten Laubengänge an der Außenfassade bieten Möglichkeiten der Zusammenkunft und verbinden die Wohneinheiten miteinander. In regelmäßigen Abständen stehen kleine Sitzgruppen zur Verfügung. Neben den Gemeinschaftsräumen wie dem „Salon“ im Erdgeschoss mit Küche, Bad, Bücherregal und Klavier und der Dachterrasse mit kleiner Küchenzeile, zwei Gästezimmern und einem Büro befinden sich im Keller noch weitere Räume, die gemeinschaftlich genutzt werden: die Werkstatt, der Hobbykeller, die Waschküche, ein Abstellraum für Rollstühle und Kinderwagen, eine Fitnessnische, eine Kleider-Tausch-Ecke und ein Fahrradkeller. „Es braucht nicht jeder seinen eigenen Hobbykeller, sein eigenes Ding – wie im Einfamilienhaus. Hier im Salon kann mittags ein Kindergeburtstag gefeiert werden und abends der 60. Geburtstag. Jeder weiß: Es ist auch mein Eigentum – und behandelt es dementsprechend. Auch unter ökologischen und Nachhaltigkeitsaspekten ist das natürlich ein großer Vorteil“, erklärt Volker. Stichwort Nachhaltig: Im Hof befinden sich lediglich fünf Stellplätze. Auf ihnen stehen zwei Autos zur gemeinschaftlichen Nutzung, die von Hausbewohnern gesponsert worden sind – darunter ein E-Auto. Eine Garage gibt es nicht, dafür einen großen Fahrradkeller samt Rampe für Lastenfahrräder. Auch hier wird auf ein umweltbewusstes Leben geachtet und weitestgehend auf das Automobil verzichtet. Die Lincoln-Siedlung wurde zudem als grünes, verkehrsreduziertes Wohnquartier geplant. Man setzt auf alternative Mobilitätsangebote: von öffentlichen Verkehrsmitteln bis hin zu Car- und Bike-Sharing.

Foto: Cora Trinkaus

Kosten-Nutzen-Verhätnis stimmt für Sarah und Volker

Sarah kommt selbst aus einem Umfeld, wo Gemeinschaft ein Thema ist: Sie wuchs in einer Kommune mit vier Familien auf, konnte sich das gemeinschaftliche Zusammenleben im Kleinen nicht mehr vorstellen. Im Großen dagegen schon. „Wir fanden das auch für unsere Kinder spannend, in so einem Projekt aufzuwachsen. Es wohnen um die 30 Kinder hier. Da gibt es immer jemanden zum Spielen“, erzählt sie. „Das Finanzielle war natürlich auch ein Thema. Zudem hat man eine Skalierbarkeit und kann sich später, wenn die Kinder aus dem Haus sind, wieder verkleinern und eine kleinere Wohnung im Projekt nehmen. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmt. Wir investieren lieber in eine Genossenschaft als in die Miete“, ergänzt Volker.

Foto: Cora Trinkaus

Doris lebt gerne sozial und ökologisch

Doris lebte 40 Jahre lang in einem Eigenheim in Arheilgen und beschäftigte sich schon länger mit gemeinschaftlichen Wohnkonzepten. Sie pflegte Kontakte in dem Bereich und nahm am Runden Tisch „Gemeinschaftlich Wohnen – Darmstadt“ teil, um irgendwann selbst in ein Gemeinschaftswohnprojekt zu gehen. Zudem war ihr eine ökologische und nachhaltige Lebensweise wichtig. „Es war für mich in vielerlei Hinsicht eine gute Wahl, was die soziale Komponente des Miteinanderlebens angeht, aber auch die ökologische Ebene, dass man hier Sachen verwirklichen kann, die man in einem Eigenheim nicht verwirklichen kann. Ich wollte mich auch verkleinern. Es wurde mir irgendwann zu viel, für alles alleine verantwortlich zu sein“, berichtet Doris.

Für die älteren Mitbewohner:innen soll noch ein Konzept entwickelt werden, wie sie möglichst lange durch gegenseitige Unterstützung selbstbestimmt im Projekt wohnen können.

Auch gemeinschaftliche Veranstaltungen sind einige geplant: zum Beispiel ein monatlicher Brunch, Kulturabende oder gemeinsamer Sport – was durch die Pandemie leider noch nicht wirklich möglich war. „All das schmiedet zusammen und man lernt sich besser kennen. Wenn zusammen etwas auf die Beine gestellt wird, schafft das Identifikation“, bringt Sarah den Sinn von Wohnsinn auf den Punkt.