Foto (Standbild aus „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs classic – Der erste Auftritt von Bum-kun Cha“): Nouki Ehlers, nouki.co

Anfang November erwarten die Lilien den VfL Bochum am Böllenfalltor. Das erste Aufeinandertreffen der beiden Klubs am Bölle liegt fast genau 45 Jahre zurück. Es sollte eine denkwürdige Partie werden. Denn sie gab den Anstoß dafür, aus einem unbekannten Exoten einen angehenden Bundesligastar zu machen.

Ein Wintereinbruch hatte die ursprünglich für Anfang Dezember 1978 terminierte Bundesligapartie zwischen den 98ern und dem Ruhrpott-Klub verhindert. Der Nachholtermin war rasch gefunden und er mutet für heutige Verhältnisse reichlich kurios an: der 30. Dezember! Während die Konkurrenz also längst in der Winterpause weilte, musste das Team des SVD einen Tag vor Silvester ran. Doch erst – auch das reichlich skurril – nachdem es vor Weihnachten für eine Woche zum Urlaub in die Schweiz gefahren war.

Als sich die 98er in den Tagen vor der Partie gegen Bochum zum Training trafen, erwartete die Spieler ein Neuzugang, der das Angriffsspiel beleben sollte. Denn die Bundesligaaufsteiger aus Südhessen waren nicht allzu gut in die für sie ungewohnte Spielklasse gestartet. Zwei Siegen und fünf Unentschieden standen neun Niederlagen gegenüber. Nur Mitaufsteiger Nürnberg stand in der Tabelle schlechter da. Um den Anschluss ans rettende Ufer nicht aus den Augen zu verlieren, war ein Sieg gegen Bochum Pflicht.

Der Beckenbauer Asiens für den Abstiegskampf

Dafür galt es, die Offensive zu stärken. Nur 20 Tore aus den vorangegangenen 16 Spielen waren alles andere als furchteinflößend. Der Neue in den Reihen der 98er sollte das ändern. Er kam immerhin als gestandener Nationalspieler nach Darmstadt. Und doch war er für die deutsche (Fußball-) Öffentlichkeit ein Exot. Denn er hatte noch nie außerhalb Asiens gespielt. Sein Name: Bum-kun Cha! Dem damals 25-Jährigen eilte der Ruf voraus, der Beckenbauer Asiens zu sein. Zwar nicht, was seine Position auf dem Feld betraf, aber in Bezug auf seine fußballerischen Fähigkeiten. Cha war zuvor angeblich weiteren Bundesligisten angeboten worden. Diese zeigten aber kein Interesse – oder sie waren aufgrund der damals limitierten Ausländerplätze nicht in der Lage, einen weiteren Legionär zu verpflichten. So griff Darmstadt zu. Dabei wussten die Lilien nur wenig über Cha. Das finanzielle Risiko war freilich überschaubar. Es fiel keine Ablösesumme an und das monatliche Fixgehalt umfasste laut dem Fußballmagazin „kicker“ lediglich 500 Mark. Dennoch blieben vor dem Bochum-Spiel einige Fragezeichen. Schließlich wusste nicht einmal Trainer Lothar Buchmann, wie fit Cha eigentlich sein würde, und der Neue musste sich obendrein in einem winterlichen Darmstadt zurechtfinden. Hinzu kam das Problem der Verständigung. Bei den Lilien sprach schließlich niemand koreanisch. So wurde ernsthaft darüber nachgedacht, Cha während des Spiels per Schriftzeichen Kommandos zu geben.

Starke Leistung gegen Bochum

Wie würde sich also „Tscha“ – so die damals häufig verwendete Schreibweise in der Presse – gegen Bochum präsentieren? Buchmann beorderte ihn jedenfalls direkt in die Startelf. Sogar der Botschafter Südkoreas kam ans Bölle, um den Auftritt des koreanischen Superstars zu verfolgen. Und obwohl Missverständnisse im Zusammenspiel mit seinen neuen Teamkollegen nicht ausblieben, überzeugte Cha mit seiner Kraft, Technik, Schnelligkeit und einem guten Schuss, wie Gästecoach Heinz Höher nach der Partie zu Protokoll gab. Höhers Fazit: „Für die Bundesliga ein brauchbarer Mann“.

Zwar schoss Cha gegen Bochum kein Tor, am Führungstreffer der Lilien war er jedoch maßgeblich beteiligt. Schließlich wusste ihn sein Gegenspieler Jupp Tenhagen – seines Zeichens DFB-Nationalspieler – vor dem Strafraum nur mit einem Foul zu stoppen. Den fälligen Freistoß verwandelte Kunstschütze und Lilien-Kapitän Walter Bechtold. Als Cha nach 78 Minuten entkräftet den Platz verließ, erntete er großen Applaus der 13.000 Zuschauer. Auch die Medien überschütteten ihn nach dem 3:1-Sieg mit Lob. So blickte der SVD mit seiner neu gewonnenen Offensivkraft zuversichtlich auf die bald beginnende Rückrunde.

Hängepartie ohne Happy End

Doch es sollte alles ganz anders kommen. Da das nächste Spiel erst Mitte Januar war, reiste Cha zurück in seine Heimat „um noch einiges zu erledigen“. Was folgte, war eine Hängepartie. Denn der Hoffnungsträger kehrte einfach nicht zurück. Fast täglich thematisierte das Darmstädter Echo das Warten auf Cha und musste doch immer wieder ernüchtert feststellen: Niemand wisse, wo genau der Heilsbringer sich aufhalte, geschweige denn, wann er zurückkehre. Die Posse trieb sogar derart seltsame Blüten, dass ein Scherzkeks bei den Lilien anrief, um sich als Cha auszugeben und in gebrochenem Englisch mitzuteilen, er könne nun am Frankfurter Flughafen abgeholt werden. Als Lilien-Vertreter dort eintrafen, war von Cha aber weit und breit keine Spur.

Letztlich war es so, dass Cha gar nicht zurückkehren konnte. Er musste erst seinen Militärdienst beenden, was den Lilien offenbar verborgen geblieben war. Die verzwickte Situation rief gar Dr. Hermann Schmitt-Vockenhausen auf den Plan. Der südhessische Bundestagsabgeordnete (von der SPD) und Vizepräsident des Bundestages schrieb zwei Telegramme nach Seoul, um die positive Wirkung Chas in Deutschland zu betonen. Eine frühe Rückkehr sei somit im Sinne Südkoreas. Doch die Regierung blieb hart. Als Cha seinen Militärdienst im Mai 1979 abgeschlossen hatte, standen die Lilien als Absteiger aus der Bundesliga fest.

Cha hatte aber Begehrlichkeiten geweckt. Einige Bundesligisten buhlten um seine Dienste. Schlussendlich wechselte er für stolze 200.000 Mark zu Eintracht Frankfurt, später zu Bayer Leverkusen. Mit beiden Klubs holte er den UEFA-Cup. Noch heute zählt Cha mit – natürlich – 98 Bundesligatreffern zu den treffsichersten ausländischen Spielern überhaupt. Möglich war dies nur, weil er am 30. Dezember 1978 im Trikot der 98er über 78 Minuten gegen Bochum überzeugte.

 

Festung Bölle?!

Fr, 3.11, 20.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – VfL Bochum

Sa, 11.11., 15.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – 1. FSV Mainz 05

Sa, 25.11., 15.30 Uhr: SC Freiburg – SV Darmstadt 98

Fr, 1.12., 20.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – 1. FC Köln

sv98.de

 

Zwei Ausstellungen zum Vereinsjubiläum

Ein digitales Lilien-Museum mit zahlreichen Trikots in 3D-Animation findet Ihr seit September online unter lilien.museum.

Außerdem läuft die Sonderausstellung „125 Jahre Lilien: Zusammenhalt. Offenheit. Vielfalt.“ mit historischen Fotos, exklusiven Exponaten wie Ehrennadeln, Plakaten, Wimpeln und Fanschals sowie weiteren Unikaten aus der Vereinsgeschichte:

Stadthalle Ober-Ramstadt | 16.9.23 bis 25.2.24 | So von 14.30 bis 17.30 Uhr, weitere Infos: museum-ober-ramstadt.de

 

Matthias und der Kickschuh

Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!

kickschuh.blog