Foto: Jan Ehlers
Foto: Jan Ehlers

Als die elektronische Musik Anfang der 1990er in England den Sprung von illegalen Undergroundpartys in die Charts schaffte, war Leeroy Thornhill hautnah dabei. Vor seinem DJ-Set im Level 6 im Oktober 2013 erzählte uns der ehemalige Keyboarder und Tänzer von „The Prodigy“, wie die elektronische Musik ihren subversiven Charakter verlor und warum er als DJ heute trotzdem so viel Spaß hat wie nie zuvor.

Leeroy, The Prodigy haben wahrscheinlich mehr Menschen mit elektronischer Musik infiziert als viele andere Acts. Wie verlief denn Dein Kontakt zur elektronischen Musik?

Ich war eigentlich schon immer in Musikszenen unterwegs. Meine Schwestern waren Punks, also habe ich auch viel Punk gehört. Die erste Musik, von der ich wirklich begeistert war, war aber Northern Soul, Funk und Disco. Schon in den 70ern haben viele Künstler in dem Bereich mit elektronischen Klangerzeugern experimentiert. In den 80ern habe ich dann viel von Human League, Gary Newman, Depeche Mode und Vince Clarke gehört. Auch Kraftwerk und die Sparks haben gute Popsongs mit elektronischen Instrumenten gemacht. Ich war durch all diese coolen Bands schon an einen gewissen „mechanischen“ Sound gewöhnt, als elektronische Musik dann mit der Rave-Szene massiv durchgestartet ist.

Also hat es für dich auf den berühmten Warehouse-Partys begonnen…

Eigentlich hat mich Acid-House, das dort hauptsächlich lief, am Anfang gar nicht gereizt. Für mich war das Musik für Weiße ohne jeglichen Rhythmus. Eine gerade Bassdrum und eine Menge Beeps und Bleeps …vielleicht gut, wenn man auf LSD ist, aber sonst? Ich arbeitete zu dieser Zeit gerade im Süden Englands als Elektriker. Wenn ich an den Wochenenden wieder nach London kam, erzählten mir meine Freunde immer: „Du musst auf diese Partys kommen, Du musst E(cstasy) probieren.“ Irgendwann habe ich mich dann breitschlagen lassen – und diese Szene hat mich einfach umgehauen.

Die Warehouse-Partys sind ja eine wichtige Zeit in der elektronischen Musik, gerade in England. Was hat das Ganze so besonders gemacht?

Das ist schwer in Worte zu fassen. Es war einfach immer ein großes Abenteuer. Man wusste vorher nur, dass es am Wochenende einen Rave mit vielleicht 20.000 Leuten geben würde. Es wusste aber keiner, wo. Damals hatte niemand von uns ein Handy. Also sind alle zu bestimmten Treffpunkten gefahren, meistens waren das Tankstellen rund um die M25. Da sind dann oft 500 oder 600 Autos zusammengekommen. Tausende warteten auf dem Parkplatz, die Stimmung war total aufgedreht. Irgendwann kam dann ein Anruf aus einer Telefonzelle: „Okay, ist es in Middlesex.“ Das ist ungefähr drei Stunden entfernt, also springt jeder in sein Auto und fährt los. Wenn es dumm läuft, fährt man dann hinter jemandem her, der in die falsche Richtung unterwegs ist. Irgendwann kommt man dann endlich an einer alten Lagerhalle an. Dort steht man noch eine ganze Weile in der Kälte an, ohne zu wissen, ob man überhaupt hereingelassen wird. Dann bezahlt man 25 Pfund Eintritt für eine Location ohne Toiletten oder Notausgänge. Und jeden Moment kann die Polizei in voller Montur die Türen eintreten und man muss sehen, wie man aus der Sache rauskommt.

Das harte Vorgehen der Polizei wird ja auch auf dem Innencover des ersten The Prodigy-Albums „Experience“ thematisiert. Warum ist die Polizei damals so stark gegen diese Partys vorgegangen?

Das ganze Rave-Ding war etwas komplett Neues und niemand wusste davon. Die Regierung hat irgendwann Panik bekommen, weil da Wochenende für Wochenende eine halbe Million Leute zur gleichen Musik unterwegs waren. Das könnte ja eine politische Revolution werden. Und es war ja auch eine Revolution im Untergrund – aber mit Musik und Spaß. Es waren viele Leute, die einfach nur ihrem beschissenen Alltag entkommen wollten. Alles, was zählte, war das Tanzen und neue Leute kennenzulernen. Es ging darum, dieses Gefühl zu teilen. Keiner konnte sich damals erklären, warum die Fußballgewalt auf einmal so schnell zurückging. Es war, weil die Leute jedes Wochenende auf E unterwegs waren. Doch die Regierung dachte nur: „Wir müssen das kontrollieren.“ Also haben sie den „Criminal Justice Bill“ erlassen. Er besagte, dass es illegal war, wenn mehr als zehn Menschen in einem Haus länger als eine bestimmte Zeit zu repetitiver Musik tanzten. Damit waren die Raves illegal.

Insgesamt klingt das eher nach Stress als nach dem viel beschworenen „Love, Peace and Harmony“…

Man muss einfach dabei gewesen sein: Es war der totale Wahnsinn. Ich werde bestimmt keine Werbung für Drogen machen, aber es war ein sehr wichtiger Bestandteil davon. Ich werde oft gefragt: „Ist es heute das gleiche wie früher?“ Die Antwort ist: Es wird nie das Gleiche sein. Das waren damals 15.000 oder 20.000 Menschen auf Ecstasy. Und das war nicht irgendwelches gestrecktes oder verschnittenes Zeug. Das waren Medikamente, die zum Beispiel in der Schweiz auf Rezept erhältlich waren. Es gab keinen Alkohol, nur Wasser und Softdrinks. Keine Schlägereien, kein bisschen Ärger. Du hast Menschen getroffen, die fünf bis sechs Stunden entfernt von dir gewohnt haben und die durch das halbe Land gefahren sind, weil sie von dieser Party gehört hatten. Ich habe dort so viele Leute kennengelernt und zu manchen habe ich immer noch Kontakt. Es wird wahrscheinlich nie wieder dasselbe sein, wenn nicht alle Leute auf Ecstasy sind. Man konnte die Atmosphäre damals wirklich mit Händen greifen. Wenn ein bestimmter Tune gespielt wurde, waren alle auf der gleichen Wellenlänge.

Also haben die Drogen den Unterschied ausgemacht?

Dancemusic hat schon viel mit Drogen zu tun. Du musst keine Drogen nehmen, um die Musik zu genießen. Aber sie kommt daher. Und ja, diesen Unterschied hört man: Früher wurde Musik gemacht, damit die Leute sich gut fühlen. Selbst härtere Tunes hatten immer wieder Breakdowns mit hochgepitchten Pianos oder „Love-Vocals“. Es war pure Wohlfühlmusik. Heute klingt die Musik für mich eher digital und ein wenig seelenlos. Wenn du dir den neuen Sound anhörst, Dubstep, Trap und so weiter: Wo ist da das Positive? Ich glaube, die meisten Leute machen Musik heute mit einer anderen Motivation als damals.

Ist das der Grund, warum Du in Deinen Sets immer noch viele Klassiker spielst?

Eigentlich nicht. Am Ende kommt es einfach nicht darauf an, was gerade angesagt ist und was der letzte Schrei ist. Auflegen heißt, Tracks zusammenzustellen, damit die Leute eine gute Zeit haben. Und wenn das bedeutet, ein paar alte Tunes zu spielen, dann tue ich das. Ich bin nicht dafür da, die Leute mit meinem Wissen über Musik, die sie noch nie gehört haben, umzuhauen. Das ist einfach langweilig. Wenn du auf einer Party bist, dann willst du doch mindestens eine oder zwei Sachen hören, die du kennst und magst. Also versuche ich, Bootlegs von bekannten Songs zu spielen. Martin Hørger und ich machen da auch viel selbst und erstellen Edits von Bands wie Nirvana, Foo Fighters, Red Hot Chili Peppers usw. Dann haben die Leute etwas, an dem sie sich festhalten können. Trotzdem ist es natürlich auch mein Job, das Publikum ein bisschen zu erziehen und neue Sachen zu spielen. Es ist alles eine Frage der Balance. Aber letzten Endes wählen die Leute auf dem Floor die Musik aus.

Du bist ja nach dem zweiten Album bei The Prodigy ausgestiegen. Trotzdem spielst Du immer noch viele Sachen von damals. Bist du die Tracks nicht langsam über?

Nein, gar nicht. Ich spiele sie vor allem, wenn mein Set eher in Richtung Oldschool und Bootlegs geht. Ich bin zwar nicht mehr in der Band, aber irgendwie bin ich doch noch immer ein Teil davon. Wir sind wie eine verdammte Familie. Selbst, wenn wir uns nicht mehr so oft sehen, weil wir alle viel unterwegs sind. Aber wir haben regelmäßig Kontakt. Ich meine, das ist das, wo ich herkomme, und da bin ich auch stolz drauf. Ich promote auch die neuen Tunes von The Prodigy, so gut ich kann. Diese Musik ist für den Floor gemacht und sie funktioniert einfach. Davon abgesehen lege ich jetzt seit zwölf Jahren auf und glaube, ich mache einen guten Job. Mich kümmert es einfach nicht, was die Leute über die Auswahl meiner Tunes sagen. Wahrscheinlich wird es einige geben, die sagen: „Oh, Leeroy Thornhill war in Darmstadt und er hat schon wieder ‚Smack my Bitch up‘ und das Bootleg von ‚Song 2‘ von Blur gespielt.“ Aber ich spiele diese Tunes, weil sie die Leute zum Abgehen bringen.

Das klingt jetzt nicht gerade nach einer Liebeserklärung für aktuelle Musik …

Natürlich gibt es auch neue Tunes, die mir gefallen. Ich finde vielleicht noch vier, fünf Breakbeat-Tunes pro Woche, bei denen ich denke: „Yeah, den kann ich spielen.“ Das waren vor wenigen Jahren auch schon mehr. Dafür finde ich heute noch drei gute Midtempo-Tracks, zwei Drum’n’Bass-Tracks und vielleicht noch ein oder zwei Trap-Stücke. Und ich liebe es, in der heutigen Zeit aufzulegen. Schließlich habe ich ganz andere Möglichkeiten: Ich kann auf eine riesige Bandbreite von Musik zurückgreifen. Und zusätzlich kann ich noch das Tempo variieren. Martin Hørger und ich produzieren hierzu extra Übergänge, um den Fluss nicht zu stören. Ich kann heute unterschiedliche Stile in einem Set spielen und habe das Gefühl, die Leute verstehen es. Sie stehen nicht einfach rum und warten, bis House läuft. Und wenn kein House läuft, dann verstehen sie es nicht und bleiben einfach stehen.

War das denn früher anders?

Ganz früher auf den Raves spielte ein DJ einen Techno-Track, dann einen mit HipHop-Vocals, dann einen Ragga-Tune und dann Drum’n’Bass – oder zumindest, was damals unter diesem Namen lief. Alles wurde zusammengemixt, weil es das gleiche Tempo hatte, alle haben gemeinsam gefeiert. Dann haben sich die einzelnen Stile ausdifferenziert. Angefangen hat das alles mit LTJ Bukem. Was er gemacht hat, war keine Musik mehr für die Raves. Drum’n’Bass wurde damit ein Stil für sich. Dann kam Darkside und dieses ganze Zeug auf – jeder benutzte auf einmal das „Amen Break“ [Der sogenannte „Amen Break“ ist ein Sample aus dem Stück „Amen, Brother“ der Soulband The Winstons (1969), Anm. d. Red.]. Doch dann kam House groß raus, lief auch in den kommerziellen Clubs. Also war es für die meisten Leute der erste Kontakt mit elektronischer Musik. Wenn es kein House war, war es zu dreckig und sie verstanden es nicht. House hat die ganze Szene so lange dominiert, dass es alles gekillt hat. Nichts gegen die Musik an sich: Ich wette, ein House-DJ könnte mir bestimmt drei Stunden lang das beste Set meines Lebens vorspielen. Tatsächlich muss ich mir das Zeug aber neun oder zehn Stunden im Club in Ibiza anhören. Da höre ich viel Mittelmaß und auch viel Müll. Für mich gibt es in keinem Genre genug gute Musik, als dass man zehn Stunden am Stück damit füllen könnte.

Und was hat Deiner Meinung nach dazu geführt, dass House nicht mehr so stark im Fokus steht?

House ist zumindest in England irgendwann durch Stile wie R’n’B und Urban verdrängt worden. Und dann haben diese Richtungen Elemente von Crunk und von Dubstep aufgenommen. Und am Ende war es doch wieder elektronisch. Die Leute gehen hübsch zurechtgemacht mit polierten Schuhen in einen kommerziellen Club und hören Rihanna auf einem Beat wie „duh duh duh“ [macht Bleep-Geräusche]. Und eines Tages gehen sie vielleicht in einen richtigen Club und die Musik dort stört sie gar nicht mehr. Der Kommerz ist längst auf den Zug der elektronischen Musik aufgesprungen. Der Vorteil davon ist allerdings, dass es nicht mehr so schnell heißt: „Komm, lass uns woanders hingehen und House anhören.“ Ich glaube, insgesamt ist elektronische Musik im Moment so stark wie nie zuvor.

Du hast ja auch selbst schon unter den Pseudonymen „Flightcrank“ und „Longman“ Musik veröffentlicht, allerdings nicht unbedingt rein elektronisch…

Es liegt mir einfach eher, Songs mit Lyrics zu schreiben, mit einem Pop-Arrangement, Chorus, Bridge, Vers – langsame Beats, eher Chillout, mit ein bisschen HipHop, in etwa die Richtung von Massive Attack. Richtige DJ-Musik ist mir dagegen schon immer schwergefallen. Aber in den letzten drei Jahren haben Martin Hørger und ich das „Smash Hifi“-Ding aufgezogen. Ich habe mir seitdem Unmengen an Tutorials reingezogen und bin mittlerweile an einem Punkt angekommen, an dem es schon fast wissenschaftlich wird. Es ist wie „Mann, das hat zu viel 400 Hz … und außerdem zu viel 10 kHz.“ Wir unterhalten uns in Frequenzen. [lacht].

Heißt das, da wird in Zukunft mehr von Dir kommen?

Martin Hørger und ich haben eigentlich gerade unser „Smash Hifi“-Album fertiggestellt. Aber wir werden drei Tracks davon als EP herausbringen – und Westbam wird noch einen Remix beisteuern. Deswegen brauchen wir jetzt wieder ein paar Tunes für das Album.

Wie läuft denn die Zusammenarbeit zwischen Martin und Dir ab?

Wir sind sehr verschieden, was unsere Herangehensweise an Musik angeht. Martin ist viel technischer, ich bin eher ein Gefühlsmensch. Martin kann acht Stunden an einem „16 Bar“-Loop herumschrauben und Kleinigkeiten daran verändern. Am Ende zeigt er mir den Loop und ich sage dann: „Das ist echt ein cooler Loop, aber wie willst Du den arrangieren?“. Bei mir ist es genau andersrum, eher so nach dem Motto: „Okay, ich habe drei Minuten und eine Melodie und es hat schon das richtige Feeling. Die Kickdrum war vielleicht von Anfang an die Falsche und ich bin noch nicht glücklich mit der Bassline. Aber ich werde nicht versuchen, die beste Kickdrum auf der Welt zu machen, wenn sie am Ende nicht zur Bassline passt. Dann kommt wieder Martin an mit „warum kopierst Du nicht das dahin und das dahin“ – und plötzlich haben wir ein dreiminütiges Intro zu dem Track und eine gute Grundlage. Martin und ich ergänzen uns einfach sehr gut.

Und wie viel Leeroy Thornhill steckt im „Smash Hifi“-Sound?

Der „Smash Hifi“-Sound ist eine gute Mischung aus uns beiden. Ich würde sagen, Martin gibt definitiv die Richtung vor. Siebzig Prozent stammen von ihm. Er sieht sich Tutorials an, spielt mit allen möglichen Plug-Ins. Mein Beitrag besteht dann oft noch daraus zu sagen: „Okay, das ist wirklich gut, aber wir müssen auch sicherstellen, dass es auch noch morgen noch gut klingt.“

Und das heißt konkret?

Ich bin mit Beats aufgewachsen, doch sehr viel von dem heutigen Zeugs ist sehr mechanisch. Sie nennen das „Breaks“, aber es geht nur „Boom, Tschak, Boom, Tschak“. Es ist im Grunde das Gleiche wie eine Viervierteldrum. Ich sage nicht, dass das falsch ist. Es ist nur kein Breakbeat, es ist Marschmusik. Ich will in meinen Tracks Oldschool-Elemente mit neuen Sachen kombinieren. Ein bisschen mehr Rhythmus, ein bisschen mehr Soul. Es gibt viel Technik, die die Musik zu mechanisch und seelenlos für mich macht. Ich will lieber ein paar „Fehler“ im Track haben. Wenn man eine Band hat, dann hat man auch keinen eigenen Kanal mit Sidechaining für jede Drum in der Bassline. So funktioniert das nicht. Wenn ich Musik mache, dann ist das wie eine Dreimannband: Du hast einen Drummer, du hast eine Gitarre und du hast eine Lead-Stimme. Also mach daraus einen Song. Letzten Endes bestehen die besten Bands auf der Welt auch nur aus drei oder vier Leuten.

Und wie kann man sich Eure Musik vorstellen? Geht das auch in Richtung „Feelgood“-Musik, also in Richtung …

… Drogenmusik? [lacht] Das ist wirklich eine gute Frage. Heute Abend spiele ich das erste mal seit Jahren einen eigenen Track im Club. Martin war die letzten drei Wochen anderweitig beschäftigt und ich wollte unbedingt etwas machen. Und tatsächlich habe ich heute nach zwei Wochen Arbeit das Rohmastering fertiggestellt. Deswegen ist die Party für mich heute sehr aufregend.

Das ist natürlich eine große Ehre für Darmstadt und das Level 6. Vielen Dank jedenfalls für Deine Zeit!

[Anm. d. Red.: Wir möchten am Ende nur kurz darauf hinweisen, dass man über Wirkung (und vor allem Nebenwirkungen) der Droge Ecstasy unterschiedlicher Meinung sein kann. Wir haben das Interview bewusst nicht gekürzt, da es sich um die authentischen Erinnerungen von Leeroy Thornhill handelt, können aber aus eigener Erfahrung sagen, dass Musik ebenso gut (und eigentlich sogar besser) ohne illegale Drogen funktioniert. Ein jeder sollte das für sich entscheiden, sich aber vorher genau informieren.]

 

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