Foto: Susanne Lackner/TU Darmstadt

Seit 1997 trägt Darmstadt den Beinamen Wissenschaftsstadt im Titel und auf den Ortsschildern. Mit ihren Ideen, Projekten und Lösungen füllen Forschende an TU und Hochschule Darmstadt oder den Fraunhofer-Instituten dieses Label mit Leben. Das P zeigt Ausschnitte ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeit: Projekte, die sich auf Gesellschaft, Umwelt und Alltag auswirken – und die Menschen dahinter.

Was den Menschen in mittelalterlichen Pandemiezeiten zum Verhängnis werden konnte, lässt sich nun zum Vorteil nutzen: Abwasser. Schon im Frühjahr 2020 stellten Forscher:innen fest, dass sich Coronaviren in den Ausscheidungen infizierter Personen nachweisen lassen. Und zwar auch, wenn die Personen keine Symptome zeigen. Auf Grundlage dieses Wissens untersuchen Wissenschaftler:innen der Technischen Universität Darmstadt nun in ganz Hessen das Abwasser.

Verantwortlich für das Projekt ist das Team um Susanne Lackner, Professorin für Wasser- und Umweltbiotechnologie an der TU Darmstadt. „Es gibt zwei Dinge, die wir messen“, erklärt Lackner: „Auf der einen Seite die Anzahl der Bruchstücke von Coronaviren. So ermitteln wir Veränderungen der Infektionszahlen. Das machen wir, ähnlich den Medizinern, mit PCR-Tests. Auf der anderen Seite sequenzieren wir die RNA, also das Erbgut der Viren, um eher qualitativ die Verteilung der Mutationen zu kennen.”

Abbild der Pandemie in Echtzeit

Die Vorteile des Abwassermonitorings gegenüber den klassischen Humanproben: Entwicklungen im Infektionsgeschehen werden fünf bis zehn Tage früher erkannt als durch Personentestung. Damit kann die Politik schneller mit entsprechenden Maßnahmen reagieren. Aber der laut Lackner entscheidende Vorteil ist, dass die Methode alle Personen miteinbezieht: „Wir sind komplett unabhängig von jeglicher Art von Teststrategie und Testwilligkeit“, sagt sie. Das heißt, jeder, der auf eine ans Abwassersystem angeschlossene Toilette geht, wird miterfasst.

Außerdem, so die Professorin, sei es – im Verhältnis dazu, wie viele Menschen erfasst werden – wesentlich günstiger als die regulären Schnelltests. Diese verlieren ohnehin an Bedeutung, da ein Großteil der Bevölkerung geimpft ist und die Tests nun nicht mehr kostenfrei sind. „Dahingehend hat man über die Abwasserseite noch einen gewissen Einblick, was passiert. Auch, ob sich neue Mutationen beziehungsweise Varianten verbreiten.“

Ein PCR-Test fürs Abwasser kostet zirka 300 Euro. „Zwei bis drei Tests pro Woche sind genug für zuverlässige Ergebnisse”, so Lackner. Eine RNA-Analyse ist teurer, findet dafür aber nur alle zwei bis vier Wochen statt. Die monatlichen Analysekosten für ein Gebiet wie Südhessen schätzt die Wissenschaftlerin auf rund 65.000 Euro. Das umfasst immerhin knapp vier Millionen Menschen. Dieser Wert beziehe sich aber nur auf die Analyse, „jemand muss die Daten dann noch auswerten.“ Insgesamt gibt das Land Hessen 1,5 Millionen Euro für das Monitoring aus.

In der Datenauswertung sieht Lackner momentan auch die größte Herausforderung: „Wer verarbeitet die Daten in welcher Form und wer nutzt sie dann wie?“ Momentan schieben sich auf Bundesebene Umwelt- und Gesundheitsministerium gegenseitig die Zuständigkeit hin und her. Die Kläranlagen liegen im Zuständigkeitsbereich des Umweltministeriums, aber wenn es um die Gesundheit geht, sind das Gesundheitsministerium beziehungsweise das Robert Koch-Institut (RKI) verantwortlich. Das Abwassermonitoring ist also technisch und finanziell machbar, nur an der Bürokratie hapert es noch.

Natürlich ist aber auch die Forschung noch nicht am Ende. Manche Fragen bleiben bislang ungeklärt: zum Beispiel, wie viele Viren eine Person im Verlauf der Krankheit ausscheidet. Und auch, inwieweit die Zusammensetzung des Abwassers Einfluss auf die Nachweismöglichkeiten nimmt. Außerdem liegen die Messstellen sehr zentral. Die Forscher:innen entnehmen die Proben nach der groben mechanischen Vorbehandelung des Abwassers in der Kläranlage. „Sonst ist da zu viel anderer Schmodder drin“, erklärt Lackner. Das heißt aber auch, dass die Proben oft das Abwasser von mehr als 80.000 Menschen enthalten. Damit lassen sich neue Ausbrüche nur schwer lokalisieren. Die TU ist aber in Gesprächen mit der Stadt Darmstadt, um hier ein dezentrales Messsystem umzusetzen. Allein der personelle Aufwand ist bei einem solchen System um einiges höher und damit kostspieliger.

Foto: Susanne Lackner/TU Darmstadt

Dezentrales Monitoring für Darmstadt ab November

Laut Stadtkämmerer André Schellenberg soll das dezentrale Monitoring noch diesen November in Darmstadt starten. Dann wird es, neben dem Zentralklärwerk im Nordwesten und dem Klärwerk Süd in Eberstadt, zehn bis zwölf weitere Entnahmestellen, „idealerweise an vorhandenen Pumpwerken“, geben. Von Darmstadt-Ost bis Darmstadt-West und von Eberstadt bis Wixhausen. Das soll monatlich 50.000 bis 60.000 Euro kosten.

Langfristig sollte sich, so Lackner, eine dauerhafte Messinfrastruktur etablieren. Dann ließe sich das Monitoring auf andere Erreger ausweiten, wie es auch in Darmstadt geplant ist. Etwa auf multiresistente Bakterien. „In den Niederlanden gibt es solche Strukturen schon seit Jahrzehnten“, betont Lackner. Auch die Europäische Union mahnte schon im März, dass ihre Mitglieder bis spätestens Oktober ein landesweites Abwassermonitoring für Coronaviren entwickelt haben sollen. Etwas, wovon Deutschland noch weit entfernt zu sein scheint. Gerade die Strukturen, um die Analysedaten zu verwerten, fehlen noch weitgehend. Dazu müssen die Behörden noch die Zuständigkeiten klären.

Für die Zukunft wünscht sich Susanne Lackner mehr Austausch und Kooperation zwischen Umweltforscher:innen und Mediziner:innen. „Unsere Perspektive für die Zukunft ist, dass wir einen Katalog von Krankheitserregern haben und in regelmäßigen Abständen schauen, was wir davon im Abwasser finden.“ Zwar wird das Abwasser heute schon untersucht, aber nicht nach allen Erregern und erst beim Verlassen der Kläranlage. Bisher ging es also vorrangig darum, wie man Rückstände im Abwasser von der Umwelt fernhält. Künftig soll es nach Lackner auch darum gehen, was sich im Zulauf der Kläranlage befindet. Also, wie es um die Gesundheit der Menschen steht. „Vielleicht entdecken wir im Abwasser plötzlich Erreger, die bei uns gar nicht vorkommen sollten und die man medizinisch nicht auf dem Schirm hat.“ Das wäre etwa im Februar 2020 nützlich gewesen, als sich Corona in Deutschland weitgehend unbemerkt ausgebreitet hat und die Menschen nichtsahnend Karneval gefeiert haben. Lackner und ihr Team sehen noch großes Potenzial im Abwasser. Wer hätte gedacht, dass es unserer Gesundheit noch mal so von Nutzen sein wird.

 

Vom Bund gefördert

Das im April 2021 gestartete Forschungsprojekt „SARS-CoV-2 Genom im Abwasser – Monitoring der Pandemieentwicklung mittels Sequenzierung“ ist auf eine Laufzeit von einem Jahr ausgelegt und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) innerhalb der Strategie „Forschung für Nachhaltigkeit“ FONA gefördert. Die BMBF-Fördersumme für die Forschungsarbeiten an der TU Darmstadt beträgt rund 720.000 Euro.

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