Foto: Jörg Hempel, Aachen

Die Betrachtung von Kunst und Welt ist oft eine Frage der Perspektive. Selten lässt sich das so gut erleben wie bei dieser Brücke, die vom Darmstädter Architekturbüro „netzwerkarchitekten“ (zusammen mit den Nürnberger Tragwerksplanern „Tragraum“) entworfen und geplant wurde.

Aus der Sicht eines Autofahrers wirkt sie wie eine mausgraue Struktur, die sich nahtlos in die Umgebung einfügt, doch für Fußgänger:innen oder Radfahrerende ist sie ein farbenfrohes Erlebnis im Alltag. Aus der Vogelperspektive betrachtet enthüllt die Brücke sich als eine krakelige, knallrote Linie. Dieses riesige Objekt ist nicht nur funktional, sondern auch sensorisch ansprechend, eine gelungene Mischung aus Installation und stabiler Infrastruktur.

Der Bildhauer Norbert Kricke, eine wichtige Figur der Nachkriegsmoderne in Deutschland, hätte an diesem Design vielleicht besondere Freude gehabt. Bekannt für seine Plastiken, die er als „Linien im Raum“ verstand, wollte Kricke die starre, rechtwinklige Architektur der Nachkriegsmoderne im öffentlichen Raum aufbrechen. Mit seinen häufig aus Draht gefertigten Skulpturen durchbrach er das rein funktionalistische Design von Wohnanlagen – ganz so wie diese Brücke, die sich sanft in die Höhe schwingt und auf den zweiten Blick die vielen geraden Linien ihrer Umgebung durchbricht. Besonders faszinierend an diesem Bauwerk ist, dass die dynamisch geschwungene Linie in eine tatsächliche Bewegung übersetzt wird, da es sich nicht nur um ein Kunstobjekt, sondern um eine Brücke handelt.

Sich die rote Linie im Gehen zu erschließen, bietet eine einzigartige Gelegenheit, diesen kleinen Teil des Darmstädter Stadtraums auf eine ganz neue Weise wahrzunehmen. Denn letztlich ist alles eine Frage der Perspektive: Der Blickwinkel, aus dem man es betrachtet, kann das gesamte Erlebnis verändern – ob man nur eine graue Struktur sieht oder in eine Welt voller mutiger, unerwarteter Farben und Bewegungen tritt. Und vielleicht merkt man beim Spaziergang über die Brücke, dass man nicht nur durch die Stadt geht, sondern durch ein lebendiges Kunstwerk, das Krickes Vermächtnis weiterführt und das Alltägliche subversiv unterläuft.

 

Kunst im öffentlichen Raum

Kunst findet man nicht nur in Museen und Galerien, sondern oft auch im Freien und für jede:n sichtbar. Manche Werke sind schon seit Jahrhunderten ein Teil des Stadtbildes, andere zieren es nur kurz. In Darmstadt haben einige Fügungen des Schicksals dafür gesorgt, dass es besonders viele Kunstwerke im öffentlichen Raum gibt. Ohne die schützenden Laborbedingungen eines White Cube gehen sie allerdings schnell unter. Dabei können gerade diese stillen Zeitgenossen unsere Wahrnehmung des Stadtraumes verändern und unser Verständnis von Welt herausfordern. Eine Einladung zum Fantasieren.