Darmstadt ist titelgeil, das wussten wir ja schon: Wissenschaftsstadt, Digitalstadt, Schwarmstadt, Zentrum des Jugendstils (ja, im Falle der Mathildenhöhe, sogar UNESCO-Weltkulturerbe), außerdem „Europas Tor zum Weltraum“, Namensgeber für das chemische Element „Darmstadtium“ und – früher auch einmal – hessische Landeshauptstadt und Residenzstadt … Ufff! Das muss der (ehemaligen) „Stadt der Künste“ und „Stadt im Walde“ doch erst einmal reichen! Aber nein. Es gibt noch eine andere, weniger bekannte Seite der Darmstädter:innen, die allemal titelwürdig ist: Heinerman is nämlich Bakerman! Und Heinerwoman natürlich auch.
In Darmstadt gibt es einige Traditionsbäckereien, die bis heute in Familienhand sind und dem Bäckerhandwerk fröhnen; außerdem zwei Brotsommeliere und – das haben wir erst kürzlich festgestellt – eine zunehmende Anzahl an öffentlichen Backöfen. Dort könnt Ihr Eure daheim vorbereiteten Teige für Flammkuchen, Pizza, Brot, Brötchen, Kuchen (und so weiter) fertig backen und Euch sozialisieren, sprich: connecten, ausheulen, Rezepte weitergeben, flirten, gemeinsam essen, vielleicht auch ein Fläschchen Bier oder Wein dabei köpfen, gemeinsame Projekte schmieden etcetera pp.
Und das Beste daran ist: Die Betreiber:innen dieser Backöfen wollen keine Anmeldung und keine Gegenleistung, wobei helfende Hände und Spenden stets gern gesehen sind. Ihr Ziel ist es vielmehr, die Anwohner:innen ihres Viertels auf nette und niederschwellige Art und Weise beim gemeinsamen Backen und Essen zusammenzubringen. Und wer sich jetzt fragt: „Wer, wie, was, weshalb, warum?“, der ist beim P goldrichtig. Denn: Wir haben da mal etwas vorbereitet … Einen kleinen Überblick, der jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt (zumal es im Umkreis von Darmstadt noch weitere Backhäuser gibt, etwa das neu errichtete Backhaus in Stettbach bei Seeheim-Jugenheim):
Öffentlicher Backtag im Martinsviertel
Einmal im Monat wird der große, selbst gebaute Steinofen in der Nähe des Riegerplatzes eingeheizt. Er steht schon seit 2013 in einer verkehrsberuhigten Zone nahe der Wenckstraße, mitten auf einem Kinderspielplatz, was natürlich gerade bei Eltern von kleinen Kindern gut ankommt. Gegen zehn Uhr morgens geht’s los, dann wird der Ofen vom Backteam der Martin-Luther-Gemeinde eingeschürt. Von circa 12 bis 14 Uhr werden bei heißen 350 Grad Celsius zunächst Pizzen, Flammkuchen und Fladenbrote in kurzer Zeit kross gebacken. Ab etwa 14.30 Uhr beginnt dann die Brot-Zeit (bei 250 bis 200 Grad). Und gegen 16 Uhr werden noch mit der Restwärme des Ofens (dann gute 180 Grad) Kuchen und Kleingebäck fertig gebacken.
Wo: Martinsviertel, auf dem „Unterwasser“-Spielplatz an der Lichtenbergstraße/Ecke Müllerstraße
Bakerman: Reiner Engel, Mail + Newsletter: engel.martin-luther-gemeinde@web.de
Termine: Sa, 30.10. + Sa, 27.11. … 1 x Monat, die Termine werden auf der Homepage der Martin-Luther-Gemeinde, auf Plakaten am Backofen und auf dem Friedrich-Ebert-Spielplatz im Martinsviertel veröffentlicht.
Fun Fact: Die Bewohner:innen des Viertels verdanken einem Kind, dass es den Ofen überhaupt gibt. Als die Stadt Darmstadt, die bei der offenen Kinder- und Jugendarbeit schon länger mit der Martin-Luther-Gemeinde kooperiert, im Jahr 2012 den „Unterwasser“-Spielplatz baute, durften die Kinder des Viertels ihre Ideen äußern. Ein Kind wünschte sich damals prompt einen „echten Pizzaofen“. Und weil Reiner Engel, Sozialarbeiter der Martin-Luther-Gemeinde, die Idee richtig klasse fand, setzte er alles daran, sie auch gemeinsam mit vielen fleißigen Helfer:innen und Sponsoren zu realisieren.
Offener Hofgut-Backtag
Der selbst gebaute Lehmofen, neuerdings „Backes“ genannt, stand früher neben der Holzofenbäckerei des Hofguts Oberfeld und zerfiel so langsam. Dann wurde er abgetragen und im Garten des Lernorts Bauernhof wieder aufgebaut. Der Ablauf beim offenen Backtag ist in etwa derselbe wie im Martinsviertel, allerdings um eine Stunde zeitversetzt: gegen 11 Uhr erfolgt das Anfeuern des Ofens, ab 13 Uhr können erste Pizzen (und Flammkuchen) gebacken werden. Und ab circa 14 Uhr werden Brote und Brötchen sowie zu guter Letzt noch Kuchen in den Ofen hineingeschoben.
Wo: Hofgut Oberfeld, Katharinenfalltorweg, „Backes“ im Garten des Lernorts Bauernhof (gegenüber vom Kuhstall)
Bakermen & Bakerwomen: „Backes“-Team vom Lernort Bauernhof, Telefon: (06151) 1593282, Mail: kontakt@lernort-oberfeld.de
Termine: 1 x Monat, jeweils samstags, voraussichtlich wieder am 27. November 2021; die anstehenden Termine werden auf den Infotafeln am Hofgut Oberfeld und auf der Website sowie im E-Mail-Newsletter mitgeteilt.
facebook.com/lernortoberfeld und lernort-oberfeld.de
Agora-Brotbackofen
Der Jüngste im Bunde der Darmstädter Brotbacköfen ist der Ofen bei Agora am Ostbahnhof. Gefördert durch den Bürgerhaushalt der Stadt Darmstadt und erst kürzlich – im September 2021 – offiziell eingeweiht soll der Ofen (der schon etwas länger steht, aber wegen Corona 2020 nicht in Betrieb genommen werden konnte) künftig den Bewohner:innen des Edelsteinviertels und des angrenzenden Woogsviertels zur Freunde und Erbauung dienen.
Wo: Edelsteinviertel, Agora Wohnungsbaugenossenschaft, Erbacher Straße 89a (neben dem Ostbahnhof), im Garten von Agora
Bakerwoman: Jana König, Mail: ag-ofen@agora-da.de
Termine: Angedacht sind etwa drei bis vier Termine im Jahr („und gern noch öfter, wenn sich jemand findet, das zu organisieren“); die aktuellen Termine stehen direkt am Ofen auf einem Plakat.
Fun Fact: Die Agoris sind die Ersten im Bunde, die sich einen Ofen „auf Rollen“ (!) angeschafft haben. Wahrscheinlich werden ihrem Vorbild bald auch die Vereinsmitglieder der „Back-Kultur Lincoln“ folgen. Denn: Ein mobiler Ofen gilt behördentechnisch als Grill und braucht im Gegensatz zum fest stehenden Ofen keine große Bau- oder auch Abgas-/Feinstaub-Genehmigung. Außerdem lassen sich damit empfindlichere Zeitgenoss:innen besänftigen, denn so lässt sich das (Rauch-)Fähnchen bequem nach dem Winde drehen, was wiederum der Vermeidung weiterer Geruchsbelästigung dient.
Aktuell in der Umsetzung: Back-Kultur Lincoln
Auf dem ehemaligem Kasernen-Gelände der Amerikaner entstand in den letzten Jahren die Lincoln-Siedlung. Deren Bewohner:innen hatten bis jetzt kaum Gelegenheiten, sich besser kennenzulernen. Es fehlte ein fester öffentlicher Treffpunkt. Daher bewarben sich die „Lincoln-Freunde“ (so lautete damals der Arbeitstitel; inzwischen hat sich daraus der Verein „Back-Kultur Lincoln“ formiert) beim Bürgerhaushalt der Stadt Darmstadt mit dem Projekt „Holzbackofen für die Lincoln-Siedlung“. Aktuell werden zusätzlich zu den von der Stadt bereits bewilligten 5.000 Euro noch weitere Spenden gebraucht, denn die Gesamtkosten liegen bei geschätzten 12.000 Euro. Aber sobald das gute Ding erst einmal finanziert ist und steht, sollen regelmäßige Workshops und Aktionen rund ums Backen mit allen Menschen im Quartier stattfinden.
Wo: Bessungen, Lincoln-Siedlung, Quartiersmitte/Freigelände unterhalb der Luise-Büchner-Grundschule
Bakerwoman: Sarah Knöll, Mail: info@backkultur-lincoln.de
Sobald es weitere Infos gibt, findet Ihr diese unter: backkultur-lincoln.de
Noch in Planung: Ewwerschter Backhaus
Der kleine Holzbackofen, der in diesem Sommer im Bauerngarten an der Modau, gleich hinter dem Eberstädter Rathaus, in Eigenregie gebaut wurde, ist nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommt. Simone Maier und ihre Mitstreiter:innen sind zum Teil in Personalunion beim Verein Urban Garden Darmstadt und beim Bürgerverein Eberstadt organisiert. Sie favorisieren einen großen Backofen, ja möglichst gleich ein richtiges Backhaus mitten in Eberstadt, welches dann zu diversen Festen – etwa zur Kerb oder an Weihnachten – zum Einsatz kommen könnte und von Jung und Alt gemeinsam genutzt wird.
Wo: In Eberstadt, der genaue künftige Standort steht noch nicht fest (angedacht war zunächst das Haus der Vereine im alten Ortszentrum von Eberstadt)
Bakerman: Klaus Plischke, Mail: k.plischke@posteo.de
facebook.com/urbangardendarmstadt
Weitere Backöfen von Schulen, Firmen und Vereinen
So mancher Darmstädter Verein und so manche Schule oder Firma dürfen sich über einen hauseigenen Outdoor-Backofen freuen, der dann allerdings meist auf Privatgelände steht und nur selten angeheizt wird. Exemplarisch hierfür seien die Holzbacköfen auf dem Gelände der Waldorfschule (Eberstadt), des Bauerngartens an der Modau (Eberstadt) sowie der Kinder- und Jugendfarm (Arheilgen) genannt. Letztere ist übrigens gerade 25 Jahre jung geworden und plant nun, ihren Ofen künftig noch mehr zu nutzen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Auch die Bio-Supermarkt-Kette Alnatura, die inzwischen am Rande der Heimstätte an der Eschollbrücker Straße ihren Firmensitz hat, verfügt über einen großen kupferfarbenen Backofen auf dem Außengelände, unmittelbar neben den Saisongärten der „Ackerhelden“. Dieser ist jedoch vorerst nur für firmeninterne Events gedacht. Aber wer weiß … vielleicht trägt ja unser kleiner Artikel mit dazu bei, dass alle privaten wie öffentlichen Backöfen Darmstadts künftig noch öfter angefeuert werden – und der Allgemeinheit zu sozialen wie kulinarischen Zwecken dienen.
Exkurs in die Welt der Holzbacköfen
Gebacken wurde und wird immer und überall, weshalb es in vielen Gegenden der Welt gemeinschaftlich genutzte Backhäuser gab und gibt. Wahrscheinlich existierten die ersten bereits in der Antike. Im mittelalterlichen Europa sind sie ab dem 14. Jahrhundert nachgewiesen, wobei es sie flächendeckend erst seit dem 17. Jahrhundert gibt, als Hausbacköfen und offene Feuerstellen in Teilen des Heiligen Römischen Reiches wegen der großen Brandgefahr und des enormen Holzverbrauchs verboten wurden. Der einmal wöchentlich stattfindende Backtag stellte fortan in vielen Regionen Europas (auch in Deutschland) bis in die 1960er-Jahre hinein ein wichtiges soziales Ereignis dar. Die Backzeiten wurden fest vergeben, teilweise sogar per Los. Und die Frauen – und nur sie – gingen am „Backtag“ ins Backhaus, um dort für ihre Familien für die nächsten ein oder zwei Wochen im Voraus zu backen. Beim Warten wurden natürlich auch jede Menge Neuigkeiten ausgetauscht.
Doch wie es so ist: Als Gas und Strom in die Haushalte einzogen, wurden die gemeinschaftlich betriebenen „Backhäusle“ immer seltener angeheizt – und sie verfielen. Selbst die professionellen Bäckereien, die bis 1890 keine Alternative zum Holzbackofen in der Backstube hatten, wollten Anfang des 20. Jahrhundert modern und hygienisch sein und auf Asche und Staub verzichten.
Erst Ende des 20. Jahrhunderts erlebte der Holzbackofen seine Renaissance. Über die Gründe können wir nur mutmaßen. Vielleicht sind es die Traditionspflege und der DIY-Gedanke, die sich hier niederschlagen und die Leute wieder dazu bringen, sich die alte Kulturtechnik des Brotbackens anzueignen. Oder vielleicht ist es auch der Wunsch nach Gemeinschaft und gutem Essen, der sich früher in Wirtshaus-Besäufnissen und Fressorgien äußerte und der sich jetzt zivilere Bahnen bricht. Corona wird ein Übriges dazugetan haben – wobei man fairer Weise sagen muss: Die meisten Darmstädter Backprojekte waren schon vorher geplant oder sogar schon am Laufen.
Noch ein thematisch passender Ausflugstipp: Wenn Ihr noch mehr Brot-Content braucht, könnt Ihr Euch im „Museum Brot und Kunst“ in Ulm so richtig schlau machen. Gegründet 1955 als Deutsches Brotmuseum, zeigt es eine Sammlung zur Technikgeschichte der Brotherstellung sowie zur – garantiert knusprigen – Kultur und Sozialgeschichte des Brotes.