Foto: Jan Ehlers

„Und täglich hört man immer wieder Leute stöhnen,
wie hört man auf zu rauchen, wenn man raucht!
Man müßte sich das Nichtgewöhntsein angewöhnen,
dann hätt‘ man endlich die Gewohnheit, die man braucht.”

Paulina Stulin sitzt auf dem von Pflanzen umsäumten Balkon ihrer Dachgeschosswohnung im Johannesviertel und singt beschwingt in die Wolken. Diese Strophe eines alten Liedes von Georg Kreisler hat sie verinnerlicht. Sie lässt sich hervorragend auf ihren neuen Comic übertragen.

In der kürzlich erschienenen Graphic Novel „Bei mir zuhause“ zeichnet die Darmstädter Autorin und Künstlerin ein intimes Selbstzeugnis ihrer Übergangsphase in die Dreißiger. Seit ihrem siebzehnten Lebensjahr wohnt sie in derselben Altbauwohnung im obersten Stockwerk. Diese hat sich seitdem sehr stark verändert, so wie auch sie selbst sich über die Jahre entwickelt hat. Doch bis heute fühlt sich Paulina innerhalb dieser vier Wände wohl: „Dieses Über-den-Dingen-Schweben, diese Distanz zur normalen Welt, das gefällt mir. So nah bei den Vögeln und bei den Wolken zu sein … Wenn ich hier auf dem Bett liege und in den Himmel schaue, dann kann ich mir vorstellen, überall zu sein”, sagt sie, während ihr Blick nachdenklich über die Dächer schweift.

Doch ihr Zuhause ist für Paulina mehr als ein Ort, vielmehr eine Mischung aus Gewohnheiten und bequemlichen Vertrautheiten. Im Comic versucht sie die lästigen, zum Ballast gewordenen Gewohnheiten abzulegen, um leichter und freier durch die Welt gehen zu können. So beginnt die Geschichte mit dem Ende ihrer langjährigen Beziehung und ihrem Versuch, mit dem Rauchen aufzuhören.

In eindrucksvollen und bewegenden Bildern gewährt Stulin den Leser*innen einen Blick auf die Welt durch ihre Augen. Dabei schildert sie kompromisslos die Höhen und Tiefen ihres Alltags, in dem ihr zwischen Selbstzweifeln und euphorischen Momenten immer wieder erkenntnisreiche Eingebungen kommen. Während der gesamten autobiografischen Handlung befindet sie sich im Wettlauf gegen den Blues, der sie auf Schritt und Tritt zu verfolgen scheint.

Im Comic wie im Leben hat Paulina den Drang, – im positiven Sinne – fanatisch zu sein. Wenn sie etwas Neues erkennt, ist dies für sie das einzig Wahre, in das sie sofort eintaucht, worüber sie alles wissen möchte. Und dann will sie nur noch darüber reden. Die Frage, mit der sie sich in „Bei mir zuhause“ zentral beschäftigt, ist: Wie kann man im Leben echte Erfüllung erfahren? So verwandelt sie alltägliche Gespräche mit Freunden und Bekannten auf Partys, am Dönerladen oder auf der Arbeit in philosophische Diskurse, in denen sie versucht, die Essenz des menschlichen Daseins und Strebens zu greifen.

Die Dialoge des Comics sind stark. Noch stärker und berührender sind die zahlreichen Passagen, in denen Stulin mit ihren Zeichnungen allein durch nuancierte Mimik, Gestik, Blicke, Farben und Bewegungen intensive Empfindungen auslöst, die mehr Tiefe in sich tragen als Worte ausdrücken können. Fünf Jahre hat sie an diesem stolze 600 Seiten langen Comic gezeichnet und geschrieben. Es ist ihr bisher bedeutendstes Werk.

 

Die Autorin

Paulina Stulin wurde 1985 in Breslau, Polen, geboren, kam als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland und studierte von 2007 bis 2012 Kommunikationsdesign in Darmstadt und Krakau. Stulins neuer Comic „Bei mir zuhause“ erschien wie ihre ersten beiden Veröffentlichungen im Berliner Jaja Verlag. Ihr zweiter Comic „The Right Here Right Now Thing“ wurde 2015 mit dem Independent Comic Preis in der Kategorie „Herausragendes Szenario“ ausgezeichnet. Neben der Kunst und dem leidenschaftlichen Erschaffen von Comics, leitet Stulin kreative Projekte für Jugendliche in einer Nachmittagsbetreuung. Außerdem betreibt sie den Interview-Podcast „Pingpong mit Pauli“, in dem sie Menschen aus ihrem Umfeld porträtiert. Auch die Autorin und Künstlerin Stefanie Sargnagel war bei diesem Podcast schon zu Gast.

paulinastulin.de

 

Das Buch

„Bei mir zuhause“, Comic, 2020, Jaja Verlag, 600 Seiten in Farbe, 35 € (Hardcover)

Paulina Stulin live

Signierstunde(n):

Comic Cosmos | Do, 08.10. | 12 bis 19 Uhr | Eintritt frei (nach Anmeldung)

 

Lesung:

„Open Books“ in der Ausstellungshalle (Schulstraße 1a , Frankfurt) | Fr, 16.10. | 16 Uhr | Eintritt frei (Einlass-Ticket dennoch nötig)