Fotos: Nouki Ehlers, nouki.co

Im Zug aus Frankfurt, kurz vor der Einfahrt in den Darmstädter Hauptbahnhof, Blick nach links aus dem Fenster: Sie scheint zu wanken, die 2,80 Meter hohe Figur „Zwischen den Zeiten“ von Hubertus von der Goltz. Einst balancierte sie waghalsig auf dem Dach des Ausstellungsgebäudes der Mathildenhöhe, heute tut sie es auf dem Dach des neuen Kunstdepots der Stadt Darmstadt. Das imposante Gebäude mit seiner hellen Fassade und den mattgoldenen Tür- und Fensterfassungen wurde in den vergangenen zwei Jahren an der Mainzer Straße 83 – zwischen Weststadtcafé und Donges-Stahlbauwerk – hochgezogen und Ende April feierlich eröffnet. Der Bau verkörpert sinnbildlich die pulsierende und dynamische Kunstszene unserer Stadt und soll ein Ort sein, der zwischen Geschichte und Zukunft vermittelt.

Gerade in Zeiten von Fachkräftemangel und Materialknappheit ist es bemerkenswert, dass der 14 Millionen Euro teure Neubau innerhalb der geplanten 20 Monate Bauzeit fertiggestellt werden konnte. Federführend waren die Darmstädter Stadtentwicklungsgesellschaft (DSE) und das Frankfurter Architekturbüro 1100 Architekten, die auch das neue Böllenfalltorstadion gemeinsam konzipiert haben. Das Resultat: ein modernes und zeitgemäßes Depot, welches der Lagerung und Pflege der städtischen Kultur- und Kunstsammlung dient.

Mit diesem zentralen Kunstdepot, das auf Zuwachs gebaut wurde, werden gleichzeitig die im Landkreis Darmstadt-Dieburg verteilten Depotstellen aufgelöst. Sie entsprechen schon länger nicht mehr den raumklimatischen Anforderungen zur dauerhaften Bewahrung. Neben der Städtischen Kunstsammlung, die vom Institut Mathildenhöhe konservatorisch und wissenschaftlich betreut wird, finden die Archivalien des Stadtarchivs, des Internationalen Musikinstituts, des Jazz-Instituts und des Hessischen Landesmuseums Darmstadt eine neue Heimat. Darüber hinaus sollen auch dem Institut für Neue Technische Form (INTeF) und dem Kunst Archiv Darmstadt e. V. Depoträume zur Verfügung gestellt werden. Doch bis alle Konvolute eingezogen sind, dauert es noch ein Weilchen.

Es füllt sich: das neue Zuhause für die Kultur- und Kunstobjekte unserer Stadt

Anfang April begannen die Umlagerungen der einzelnen Institutionen. Mit viel Vorsicht und einer präzisen Sorgfalt durchlaufen die Kulturgüter unterschiedliche Schleusen. Zunächst werden die Archivalien und Kunstobjekte durch ein großes Tor angeliefert, ehe sie in eine Kühlkammer gebracht werden. Dort lagern die Objekte für eine bestimmte Zeit, um mögliche Schädlinge abzutöten und einer Übertragung auf die bereits gelagerten Archivalien und Kunstwerke schon im Vorfeld entgegenzuwirken und auszuschließen.

Danach können die lokalen Kunstschätze gereinigt und für die Konservierung vorbereitet werden. Im Erdgeschoss befinden sich große und helle Arbeitsplätze zur Archivierung, Restaurierung und Instandhaltung der Objekte. Nach einer fachlichen Prüfung werden die Gemälde, Skulpturen, Möbel, grafischen Arbeiten auf Papier, Fotografien, Filmmaterial, Bücher, Akten und das Kunsthandwerk in die unterschiedlichen Depoträume eingelagert. Diese sind für die einzelnen Bedürfnisse angepasst. Eine Sortierung erfolgt innerhalb der jeweiligen Sammlung nach Gattung.

Fotos: Nouki Ehlers, nouki.co
Fotos: Nouki Ehlers, nouki.co

Klimaneutrales Vorzeigeprojekt

Durch die speziell konzipierte Lüftungstechnik entsteht ein extrem konstantes Raumklima, das mit einer Raumtemperatur von 20 Grad Celsius und 50 Prozent relativer Luftfeuchte den Anforderungen der Kunstobjekte gerecht wird. Fotografien, Filmmaterial und digitale Medien werden aufgrund ihrer besonderen Empfindlichkeit davon getrennt in einem Kühlmagazin aufbewahrt. Mit diesen technischen Voraussetzungen befindet sich das dreigeschossige Gebäude mit einer Länge von 52 Metern, 24 Meter Breite und einer Höhe von mehr als 17 Metern europaweit auf höchstem Niveau.

Das Depotkonzept sieht vor, dass die einzelnen Räume voneinander isoliert sind. Im Fall eines Brandes oder Schädlingsbefalls wird somit verhindert, dass das Problem auf andere Bereiche übergreift. Jeder Depotraum kann als autarke Kammer betrachtet werden, die im Ernstfall eigenständig funktionieren kann. So wird eine höchstmögliche Sicherheit der wertvollen Sammlungsobjekte gewährleistet.

Aber auch von außen kann sich das Gebäude sehen lassen. Mit einer Fassaden- und Dachbegrünung, einer Fotovoltaikanlage und Ladesäulen für E-Fahrzeuge ist das neue Darmstädter Kunstdepot als Passivhaus völlig autonom in der klimaneutralen Energiegewinnung. Die Fotovoltaikanlage wird laut Angaben des Betreibers so viel Energie erzeugen, dass das Gebäude im Jahresbedarf mehr Energie produziert, als es selbst verbraucht.

Außerdem sind auf der Nordseite des Gebäudes Sommerquartiere für Fledermäuse sowie Kunsthöhlen für Mauersegler und Sperlinge integriert. Das Ziel des Schützens und Bewahrens von Kunst und Kultur überträgt das Gebäude demnach auch auf seine umliegende Umgebung und trägt dazu bei, dass unsere heimischen Tiere auch im städtischen Raum Unterschlupf finden.

Fotos: Nouki Ehlers, nouki.co
Fotos: Nouki Ehlers, nouki.co

„Geschichtsvermittlung von morgen“

In seiner feierlichen Eröffnungsrede betont Noch-Oberbürgermeister und Kulturdezernent Jochen Partsch, dass das neue Kunstdepot einen „unschätzbaren Wert für unsere Stadt“ bildet. Das deklarierte Ziel ist es – mit der Anbindung an das Pallaswiesen-/Mornewegviertel –, einen „neuen Platz der Begegnungen“ zu schaffen. Geschichte soll neu erlebbar werden und die Bürger:innen für die historischen Kunstschätze, die meist jahrzehntelang in den Tiefen eines Depots schlummerten, begeistern. Kunst und Kultur solle allen Generationen zugänglich gemacht werden.

Das neue Kunstdepot trägt, so Partsch, zur „zeitgemäßen Darmstädter Erinnerungskultur“ bei. Neben dem eigentlichen Umzug sei der zweite Schritt, die historischen Objekte digital zu archivieren und sie dann online abrufbar zu machen. Diese interaktive Vermittlung sei elementar: „Geschichte kommt nicht an die Menschen, wenn wir sie nur hinter verschlossenen Türen vermodern lassen.“

Angedacht ist außerdem, dass das Depot der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. So haben Interessierte und Forschende die Möglichkeit, sich die Kunstschätze unserer Stadt an Ort und Stelle vorlegen zu lassen und sich live anzusehen. So weit ist es allerdings noch nicht. Die Umlagerung benötigt mit ihren vielschichtigen Arbeitsgängen ihre Zeit, ehe alle Kunstwerke und Archivalien ihren neuen Platz gefunden haben. Voraussichtlich ab 2024 werden Besuche nach Voranmeldung über das Institut Mathildenhöhe möglich sein.

Dennoch ist die Botschaft klar: Das neue Darmstädter Kunstdepot soll dazu beitragen, dass die öffentlichen Sammlungen besser vermittelt und transparenter gemacht werden, um ein breites Publikum zu erreichen. Wir Menschen sind es, die Kunst und Kultur schaffen, und wir sollten somit auch viel mehr Teil davon sein, ihre Vielfalt schützen und in unseren Alltag integrieren. Es gibt also Fortschritte für unser kulturelles Gedächtnis und es wird interessant zu sehen sein, wie die Darmstädter:innen mit ihrer neuen Schatzkiste umgehen werden.