Foto: Nesh Vonk

Ich leide unter einer schweren depressiven Episode – und meine Nachbarin erwartet, dass ich eine Liste führe. Eine Liste mit Dingen, die mich glücklich machen. Jede Kleinigkeit soll ich aufschreiben. Ich ziehe meinem Lieblingscharakter Trevor Philips bei „GTA5“ ein Frauenkleid und eine Eishockeymaske an, ballere wahllos Prostituierte ab und frage mich, was meine Nachbarin wohl meinen könnte.

Auf dem Balkon wächst eine Pflanze. Jeden Tag fünf Zentimeter. Sie besteht zu 99 Prozent aus Grün, oben drauf wachsen Gänseblümchen. Ich kann nicht behaupten, dass ich das Gewächs besonders schön finde. Unter normalen Umständen würde ich es als Unkraut klassifizieren, unter den gegebenen Umständen jedoch versuche ich, mich über das Ding zu freuen. Während ich also auf der Konsole weiter meinen Opferscore erhöhe, fällt mein Blick immer wieder auf diese Blume, die da auf dem Balkon wächst. Sie will mir etwas sagen. Sie will, dass ich zu ihr hinaus gehe, sie streichele, sie anfasse. Sie will was von mir. Nur was? Dass ich wieder staune? Dass ich wieder Wunder sehe? Dass ich wieder entzückt bin von dem Anblick eines Feldes auf den Streuobstwiesen? Dass mich der unfassbare Gedanke erschlägt, dass sich alles bewegt, was wir sehen? Ich drücke den Pause-Knopf und warte auf Erleuchtung.

Schnell durch die Nase tief einatmen, dann durch den Mund sofort wieder ausatmen, bis zehn zählen, wiederholen. Als würde man einen feuerspeienden, fünf Kilometer großen asthmakranken Drachen zähmen wollen. Es funktioniert einfach nicht. Es reicht mir mit dem Geballer. Ich bereite mir einen Kaffee zu und setze mich auf den Balkon. Ja, die Pflanze reizt mich noch immer, aber ich drehe mir lieber eine Zigarette und betrachte, was von meinem Kräutergärtchen übrig geblieben ist. Der letzte Sommer ließ die Minze und den Thymian am Leben. Ich betrachte die fettleibige Spiegelung meines Körpers im Wohnzimmerfenster und beschließe, irgendwann mal wieder Sport zu machen oder keine Pizza mehr zu bestellen. Mir fällt auf, dass ich sehr viele Haare habe. Ich gehe ins Bad, schnappe mir die Haarschneidemaschine und rasiere mich komplett kahl. Dabei summe ich die Melodie des Songs „Bürger von Konsolien“ von Jan Delay und denke an den Film mit Nick Nolte, wo er einen Penner spielt, denn genau so will ich nicht mehr aussehen.

Ich greife in den Spiegelschrank, hole meine Medikamente raus, nehme sie ein und erinnere mich an schwierige Zeiten – und dass alles schon mal schlimmer war. Jetzt, da all meine Haare abrasiert sind, bemerke ich an mir und meiner Kopfhaut ein extremes Schuppenproblem. Ich schnorre bei meinem Mitbewohner Anti-Schuppen-Shampoo, seife mich ein, spüle mich ab und stelle fest, dass meine Kopfhaut völlig schuppenfrei ist. Ehrlich, ich dachte, das Problem ließe sich nur mit einem Hautarzt lösen. Aber tatsächlich: Die Schuppen sind weg! Und ich freue mich. Endlich habe ich etwas, dass ich auf die Liste schreiben kann. Ich schreibe das Wort „schuppenfrei“ auf ein Blatt Papier und fühle mich locker und gelöst. Verrichteter Dinge lege ich mich wieder auf die Couch und gehe mit Trevor Philips zum Frisör, wo ich ihm eine Glatze schneiden lasse.