Die Sea Punks und ihr erstes Schiff (v.l.n.r Gerson, Raphael, Benjamin Reschke) | Foto: Stefan Unger

Der Darmstädter Filmemacher Gerson Reschke kauft 2019 mit seinen Brüdern Raphael und Benjamin spontan ein altes Torpedofangboot der Bundeswehr, um Menschenleben im Mittelmeer zu retten. Mit ihrem Verein Sea Punks e. V. haben sie jetzt Spenden für ein zweites Rettungsschiff gesammelt.

21.500 Menschen sind seit 2014 auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken. Dunkelziffer nicht inklusive. So der aktuelle Bericht des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR. Das Sterben sei „Resultat einer gescheiterten Migrationspolitik, in der Menschenrechte nicht im Zentrum stehen und die schon zu lange von einem Mangel an Solidarität geprägt ist“, so das ernüchternde Fazit der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet.

Die Grausamkeit dieser Politik äußert sich in menschenrechtsverletzenden Pushbacks oder der Kooperation der Europäischen Union mit der sogenannten libyschen Küstenwache. Denn es sind Söldner des vom Bürgerkrieg zerrütteten Landes, die Menschen auf See abfangen und sie zurück aufs afrikanische Festland führen. Hier sind Geflüchtete laut Amnesty International systematischer Folter, sexualisierter Gewalt und Sklaverei ausgesetzt.

Dennoch wagen fortwährend Tausende Menschen in ihrer Not die tödlichen Überfahrten. Mit Einstellung der letzten relevanten staatlichen Seenotrettungsoperation „Mare Nostrum“ im Oktober 2014 und Übernahme der Grenzsicherung durch die EU-Agentur Frontex hat sich die Lage zugespitzt. Das international geltende Seerecht, das zur Rettung Schiffbrüchiger verpflichtet, wird sehenden Auges ausgehöhlt.

Gegen dieses politische Totalversagen engagieren sich seither immer mehr private und zivilgesellschaftliche Initiativen – und organisieren Formen der zivilen Seenotrettung. Allein 2020 konnten so 3.500 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt werden.

Auch die Geschwister Raphael, Benjamin und Gerson Reschke wollen mit Tatkraft helfen – und fassen Ende 2019 einen Entschluss, der ihr Leben verändern wird.

Eine Schnapsidee wird Realität

Die Reschke-Brüder leben in ganz Deutschland verteilt. Jedes Jahr treffen sie sich an einem verlängerten Wochenende, um gemeinsam Zeit mit ihrem Vater zu verbringen. Bei einem solchen Familientreffen zeigt Raphael seinen Brüdern Fotos eines alten Marineschiffs, das er in Wilhelmshaven gefunden hat.

Eigentlich will sich der gelernte Schiffsmechaniker selbstständig machen und sucht hierfür ein kleines Schleppschiff. Die Bilder erinnern die Geschwister direkt an die „Sea Watch 3“. Das Seenotrettungsschiff der namensgebenden Hilfsorganisation stand im Sommer 2019 unter Befehl von Carola Rackete und erlangte vor allem wegen der Entschlossenheit und kämpferischen Menschlichkeit der Kapitänin Berühmtheit. Beflügelt durch das ein oder andere Bierchen, fassen die Reschke-Brüder noch am Abend den Gedanken, das ehemalige Bundeswehr-Schiff zu kaufen und für die Seenotrettung umzurüsten.

Prompt wird aus der Schnapsidee ein reales Unterfangen. Keine zehn Minuten, nachdem die ersten Mails an etablierte Seenotrettungsorganisationen verschickt sind, meldet sich der Dresdener Verein Mission Lifeline. „Die fanden die Idee super und forderten uns auf, zu prüfen, ob das Schiff den Anforderungen für Seenotrettung standhalten könnte“, erinnert sich Gerson. „Dann gab es kein Zurück mehr!“

Vom Torpedofangboot zum Rettungsschiff

Rund ein Jahr später gründen sie mit vier weiteren Gleichgesinnten ihren Verein. Der Name Sea Punks e. V. ist eine Hommage an das Faible der Brüder für Punkmusik sowie den DIY-Spirit und die Geisteshaltung, die sie seit ihrer Jugend damit assoziieren: „Für mich bedeutet Punk sein auf jeden Fall auch Solidarität”, meint Gerson.

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Arbeiten am Schiff längst begonnen: Unter Federführung von Mission Lifeline – und einem Spendenbudget von mindestens 120.000 Euro im Rücken – startet im Frühjahr 2020 der Umbau. Das 25 Meter lange Schiff wird mit viel ehrenamtlicher Hilfe, unterstützt von Freiwilligen, Profis, Unternehmen und Stiftungen fit gemacht, gründlich gereinigt und neu lackiert. Ein Radarsystem und eine Satellitenanlage werden installiert, ebenso eine Krankenstation. Unter Deck werden 300 Rettungswesten, Mahlzeiten und Kleidung verstaut.

Getauft wird das Schiff „Rise Above“ und läuft im Herbst 2021 unter der Flagge von Mission Lifeline aus. 150 Menschen kann die „Rise Above“ an Bord nehmen und ist im zentralen Mittelmeer im Einsatz.

Politische Manöver

Der Darmstädter Sea Punk Gerson erinnert sich an viele Hürden, mit denen zu kämpfen war. Im März 2020 änderte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer unvorhergesehen die Schiffssicherheitsverordnung. Diese setzt Standards für Ausrüstung und Besatzung fest. „Dann war erst mal klar: Das Schiff muss so umgebaut werden, dass es Regularien entspricht, für die es nie konstruiert worden ist”, schimpft Gerson und schüttelt den Kopf.

Der plötzliche Vorstoß des Ministeriums war ein politisches Manöver, das zivile Seenotrettung erheblich erschwerte. Nachdem Scheuer zwei Mal vor Gericht gegen die Seenotrettung Mare Liberum verloren hatte, formulierte er im Alleingang den Gesetzestext so um, dass das Auslaufen von Schiffen für humanitäre Zwecke quasi unmöglich wurde. Dass er dabei bewusst sabotierend agierte und sogar das Auswärtige Amt täuschte, konnten „Der Spiegel“, das Journalismus-Kollektiv „Frag den Staat“ und weitere Recherchen nachweisen. Die vergleichsweise kleinen Schiffe hätten Sicherheitsstandards großer Frachtdampfer erfüllen müssen. Es drohten Bußgelder von bis zu 100.000 Euro.

Doch die Judikative kommt schnell zu dem Schluss, dass dieser Vorstoß rechtswidrig war. Im Oktober 2020 entschied das Verwaltungsgericht Hamburg, dass die neue Verordnung Scheuers gegen Europarecht verstoße.

El Hotzo und Bela B sind mit im Boot

Kaum sind die Anstrengungen rund um die „Rise Above“ bewältigt, starten die Sea Punks in neue Projekte. Im Sommer 2021 wird an einem mobilen Duschcontainer geschraubt. In Kooperation mit der Seebrücke Bad Kreuznach wird ein alter Sanitärcontainer renoviert und mit fünf Duschen sowie Waschplätzen ausgebaut. Inzwischen ist dieser in einer Hilfsstation für Geflüchtete am Stadtrand von Thessaloniki im Einsatz.

Die tödliche Barbarei an den Außengrenzen der Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union reißt derweil nicht ab. Und so startet Ende 2021 eine weitere große Spendenaktion. Das Ziel: Ein zweites Schiff soll gekauft werden. Im Idealfall ein richtiges, großes Rettungsschiff.

Die Kampagne nimmt ordentlich Fahrt auf. Mit Promi-Support von Bela B (Die Ärzte) und Twitter-Star El Hotzo schlägt der Aufruf gewaltig ein – über 1.000 Spenden erreichen den Verein, insgesamt werden 195.000 Euro in kürzester Zeit gesammelt. Schon wenige Wochen nach Start wird so zu Beginn des noch jungen Jahres 2022 vermeldet: „Wir kaufen ein Schiff!“

„Der Berg, der jetzt vor uns liegt, ist riesig, aber dank Eurer Unterstützung werden wir das schaffen“, heißt es überwältigt. „Nur weil man etwas noch nie gemacht hat, heißt das nicht, dass man nicht trotzdem anfangen kann“, erklärt Gerson und hofft, dass das Engagement seiner Brüder auch viele weitere Menschen inspiriert.

 

Wie kann ich helfen?

Die Sea Punks freuen sich fortwährend über Unterstützung und sammeln Spenden für ihre humanitäre Arbeit. Infos zum Spendenkonto findet Ihr auf der Webseite des Vereins.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer gemeinnütziger Initiativen in Deutschland, die sich der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer widmen. Darunter die im Text erwähnten Mission Lifeline und Mare Liberum sowie Jugend Rettet, Sea Eye, Sea Watch …

In Darmstadt macht der lokale Ableger des Vereins Seebrücke e. V. mit Protesten und Aktionen auf die katastrophalen Zustände an Europas Außengrenzen aufmerksam und setzt sich für eine solidarische Migrationspolitik ein.

 

Sea Punks im Podcast

Die Sea Punks waren jüngst auch Gäste in unserem Stadtkultur-Podcast „Parole P“. Hört mal rein!

 

seapunks.de

seebrücke.org

 

Beitrag des SWR über das Engagement der drei Brüder