Foto: Jan Nouki Ehlers
Foto: Jan Ehlers

Im Nordwesten Darmstadts, eingefasst von Kasinostraße und Frankfurter Straße, liegt das idyllische Johannesviertel. Als Familienviertel verschrien, findet es recht wenig Beachtung. „Da ist doch nichts los“, hört man von manchem benachbarten Martinsviertler. „ Ich hab‘s gern mit Gemütlichkeit!“, sagt dagegen der Johannesviertler. Der Punk tobt hier nicht auf der Straße, zum Wohnen und Arbeiten ist es jedoch perfekt, dank Heinrich Blumenthal, der Initiative Johannesplatz und guter Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel.

Donnerstagabend, 18 Uhr. Dicke, graue Regenwolken schieben sich über den tief hängenden Himmel. Der Wind bläst scharf auf dem Johannesplatz, über ihn neigt sich düster und mächtig die Johanneskirche. Das Portal steht weit offen, schwere Orgelklänge dringen aus dem Gotteshaus und tauchen die mobilen Verkaufsstände des Bauernmarktes in eine surreale Gemächlichkeit. Käufer und Verkäufer haben sich in ihrem Treiben scheinbar dem Adagio der Kirchenmusik angepasst, friedlich und doch geschäftig ist die Stimmung. Ein Bäcker, ein Metzger, ein Käsemobil, ein Stand an dem Gemüse und ein anderer an dem verschiedenste Varianten von Lammfleisch verkauft werden. Dazwischen ich, auf der Suche nach etwas Gutem zum Abendessen. Ich kaufe Lammsalami von der Ökoweide, sehr herzlich beraten. Beim Bäcker entscheide ich mich für ein knusprig gebackenes Dinkelbaguette. Die Initiative Johannesplatz hat den regionalen Bauernmarkt ins Leben gerufen, die minimale Standgebühr kommt der Renovierung des Platzes zu gute. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke ein Stückchen weiter zu, um mich vor dem fiesen Wind zu schützen, schwinge mich auf mein Fahrrad und radle davon.

Foto: Jan Nouki Ehlers
Foto: Jan Ehlers

Am nächsten Tag ist das Wetter wieder schön. Stolz recken sich die Rosen, Nelken und Oleanderblüten in den Vorgärten der Viktoriastraße dem strahlend blauen Himmel entgegen. Teilweise verkehrsberuhigt wird sie von den Anwohnern als Ruheader geschätzt. An ihrem Anfang, direkt vor dem Kinderhaus in der Viktoriastraße 34, steht Darmstadts erste offene Bibliothek: ein kleiner, selbst gezimmerter Bücherschrank. Erst im Mai wurde er renoviert und 421 Bücher darin gezählt. Spannende Titel wie „Besessen“, „Das Geheimnis der gelben Narzisse“ oder „Der Affe im Menschen“ warten darauf, ausgeliehen zu werden. Zurückbringen ist keine Plicht, dafür ein neues Buch einzustellen wird gerne gesehen.

Die Architektur der Gründerzeit, klassizistische Elemente und ein Hauch von Jugendstil prägen die Ansichten der Fassaden. Nur selten zerstört der Anblick eines schmucklosen Nachkriegsbaus das pittoreske Straßenbild. Noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts grasten auf dem Terrain des Johannesviertels Kühe und Schafe, Äcker wurden bestellt und hie und da stand das stattliche Landhaus eines Adligen. Später siedelten sich hier vereinzelt Fabriken an, dennoch blieb der landwirtschaftliche Charakter erhalten. Aber dann, innerhalb von 20 Jahren – von 1861 bis 1880 – verdoppelte sich die Einwohnerzahl Darmstadts beinahe, von 28.523 auf 48.776. Viele arbeitswillige Zuwanderer zog es in die damalige Hauptstadt des Großherzogtums Hessen und der Wohnraum wurde knapp. Da ergriff der Maschinenfabrikant, Stadtverordnete und Vorsitzende der israelischen Gemeinde Darmstadt, Heinrich Blumenthal, die Initiative und legte Großherzog Ludwig III. einen Plan vor, der die Erweiterung Darmstadts im Nordwesten vorsah. Der Herzog stimmte zu und so kam es, dass erstmals ein Kapitalunternehmer die komplette Planung eines Viertels übernahm. Deswegen wurde das Johannesviertel auch zunächst Blumenthalviertel genannt.

Die Wirtschaft der 1870er Jahre florierte und es fanden sich zahlreiche Bauunternehmen, die in das damals neue Mietshauskonzept investieren wollten. In den Häusern dieses Typs gab es eine sogenannte „bel étage“ im ersten Stockwerk, in dem die reicheren Mieter wohnten – zum Beispiel ein Landgerichtsrat oder Bankdirektor – und im kälteren Erdgeschoss die Handwerker, häufig mit Werkstätten im Hinterhof, die heute häufig zu Wohnhäusern umgebaut wurden. Heinrich Blumenthal beteiligte sich am Bau nur eines neubarocken Wohnblocks vis á vis des Wilhelmsplatzes, wie früher der Johannesplatz genannt wurde. Dank seiner pompösen Erscheinung wurde das Mietshaus bald vom Volksmund „Louvre“ genannt. Blumenthal selbst zog dort ein, außerdem der Darmstädter Oberbürgermeister Albrecht Ohly und der preußische Gesandte Graf von Lynar. Der schätzte sehr, dass er nicht vom Pferd absteigen musste, wenn er den „ultrahohen“ Torbogen passierte – das ist schriftlich überliefert! Der „Louvre“ steht noch heute an der Alicenstraße Ecke Liebigstraße, sein Äußeres ist jedoch renovierungsbedürftig. In Zeiten der heißen Bauphase besuchte auch der legendäre Buffalo Bill mit seiner Wild-West-Show das Blumenthalviertel. Mit einem riesigen Arsenal an Menschen und Tieren gastierte er während seiner zehnjährigen Europatournee auf den Wiesen westlich der Frankfurter Straße.

Als anliegende Fabriken wegzogen, entstand auf dem Gelände der lärmenden Mahr‘schen Dampfschneidemühle die Goetheschule, die heutige „Schulinsel“ mit Diesterwegschule, Justus-Liebig-Schule und Eleonorenschule steht auf dem Areal der ehemaligen städtischen Gasanstalt. Vorher hatte man an Schulen, Kirchen und Kindergärten keinen Gedanken verschwendet. Auf der Liebigstraße fuhr seit 1903 bis in die 1960er Jahre die Straßenbahn, deren gusseiserne Rosetten für die Fahrstromleitung heute noch an einigen Häusern sichtbar sind. 1893/94 entstand die neugotische Johanneskirche als zweites evangelisches Gotteshaus auf dem Johannesplatz. Sie prägte auch bald den Namen des Viertels. An den Gründer erinnerte nur noch die „Blumenthalstraße“. Als die Nazis an die Macht kamen, wurde der Straßenname umgeändert in Taunusring, denn keine Straße durfte den Namen eines Juden tragen. Bis heute erinnert fast nichts mehr im Viertel an Heinrich Blumenthal, der Taunusring heißt seit 1953 Kasinostraße.

Mittlerweile ist es wieder Abend geworden. Mit der Straßenbahnlinie 3 komme ich vom Bahnhof und steige am Willy-Brandt-Platz aus. Nur Straßenlaternen beleuchten das Viertel, ich sehe keinen Mond. In vielen Ladengeschäften, die zu Architektur- oder Designbüros umfunktioniert wurden, wird immer noch gearbeitet. Die zahlreichen kleinen Bäckereien, Werkstätten und Weinhandlungen sind schon geschlossen. In einer Toreinfahrt spielen zwei Jungs Basketball, als die Mutter ruft: „Paul, Jan-Ole! Es ist schon spät, ab in die Kiste!“. An der Kahlertstraße, Ecke Landwehrstraße sitzen zwei junge Mädchen vor der „Kneipe 41“ und trinken Bier. Das „Cluster“ nebenan wirft schummriges Licht auf die Straße. „… aber der Mann hieß wenigstens Elch!“, glucksendes Barlachen ist aus dem Inneren zu hören, vielleicht hat jemand einen Witz erzählt. Vom Dinkelbaguette und Lammsalami ist nichts mehr übrig.

Foto: Jan Nouki Ehlers
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