Kürzlich sitze ich in der Straßenbahn Richtung Arheilgen und werde beim Blick nach draußen von einem grell gelb-orange besprayten Garagentor angeleuchtet. Als ich genauer hinsehe, erkenne ich einen Schriftzug: „Open Air Streetart Gallery“. Ich erinnere mich an das Darmstädter Ciddy-Geflüster, dass seit mehr als einem Jahr ein monumentales Open-Air-Museum parallel zum Rhön- und Spessartring entstehen soll – und nun vollendet ist.
Neugierig steige ich aus der Straßenbahn auf Höhe der Esso-Tankstelle aus und betrete den durch einen Pfeil markierten Weg ohne Namen am Eingang der Häuserreihe Frankfurter Straße 59. Mal sehen, ob sich dieser früher dröge Schleichweg wirklich in ein kleines Streetart-Paradies verwandelt hat, wie mir schon berichtet wurde. Die Darmstädter Streetart Gallery begrüßt mich mit einer großformatigen Ansicht der SV98-Kicker-Legenden. Schon beim Lesen der Zeilen „Wir sind die Heiner …“ und „Allez Les Bleus“ auf den ersten Garagentoren klingt der Bölle-Sound der Lilienfans in meinen Ohren.
Nach einem garagenlosen Zwischenabschnitt überquere ich die Friedberger Straße und stehe am Anfang der Vogelsbergstraße. Rechter Hand strahlt in warmen Farben das malerisch abgebildete Hofgut Oberfeld über vier Garagentore. Die Farbtöne harmonieren mit den Häuserfassaden dahinter. Ich schlendere weiter, „nuff zu’s“, dem Kontrastprogramm dazu mit mal poppig, mal dunkler gesprayten Szenen des Darmstädter Hauptbahnhofs entgegen – bis es weiter zu den Naturfarben des Odenwaldes geht. Die Arheilger Straße überschritten, grinsen mich bekannte Gesichter Darmstadts in bunten Tönen an. Direkt nebenan ist die saftig grüne Orangerie mit überdimensional großen Orangenblüten abgebildet. Klassik trifft Szene und Wissenschaft trifft Sport. Ich weiß gar nicht, wo ich überall hinschauen soll. Krasser Darmstadt-Flash!
Die hiesigen Streetart-Könner Elmar Compes (Spraymobil), Julian Bock („GegenGrau“), Fabian Meuren (Spraywatz) und Mister X haben in den vergangenen eineinhalb Jahren ganze Arbeit geleistet: Peu à peu haben sie auf 138 Garagentoren der Bauverein AG eine Sammlung von 100 Gemälden in Form von Riesencollagen erst projiziert, dann gesprayt. „Live an der Wand entsteht erst das eigentliche Kunstwerk“, berichtet Elmar über die Magie der Darmstädter Streetart Gallery. „Anfangs konnte man sich gar nicht vorstellen, wie es wirklich wirkt. Es hat jedoch unsere Erwartungen letztendlich stark übertroffen. Ich habe Hochachtung vor meinen Kollegen, die ein Layout zu einem Spray-Wunder werden lassen.“ Das Spannende an der Darmstädter Streetart Gallery: Auch wenn man als Ur-Darmstädter:in vielleicht meint, man kenne schon alle Orte und Besonderheiten, entdeckt man hier viel Neues oder typische Dinge, die man sonst nur unterbewusst wahrnimmt.
Von Georg Büchner bis Mädness, von ESA bis Bölle
Jede Generation findet mindestens einen Charakter, den sie kennt. Es sind Persönlichkeiten, die man beim Kaffeeschlürfen antrifft oder hinter den DJ-Pults im Darmstädter Nachtleben auf den Bühnen der Stadt erlebt. Verewigt wurden neben Mathildenhöhe, Staatstheater, Landesmuseum, Rosenhöhe und Woog auch das Heinerfest, stadtbekannte Gesichter wie Aurora DeMeehl, der HipHop-Musiker Mädness oder Krone-Türsteher Fred Hill sowie klassische Berühmtheiten wie Georg Büchner oder der Datterich. Darmstädter Unternehmen und Institutionen mit Wissenschaftsbezug werden ebenfalls auf den Garagen sichtbar gemacht. Summiert man alle bemalten Garagenanlagen, entsteht eine Streetartfläche von 1.000 Quadratmetern.
Ich flaniere weiter die Vogelsbergstraße hinauf. Mich springen Skater:innen an, Tennisbälle fliegen (aus dem Bürgerpark), die Wasserfontänen auf dem Vorplatz des Staatstheaters sprudeln, ich sehe den Mammutbaum auf der Rosenhöhe aus der Froschperspektive – Eindrücke, die man so schnell nicht vergisst. Vorbei an quirligen Tieren des Vivariums und Weltraumansichten der ESA endet die Streetart-Gallery-Promenade mit Jugendstilelementen der Mathildenhöhe. „Uns war wichtig, dass es am Ende mehr ist als nur eine ,Darmstadt-Skyline’“, betont Elmar. Das ist auf jeden Fall gelungen!
„Unsere Garage hat eine Platane abbekommen“, erzählt mir eine Garagen-Mieterin, die ich zufällig treffe. „Ich bin mit dem Motiv sehr zufrieden. Zudem müssen wir beim Verleih unseres Autos nicht mehr die Garagennummer herauskramen … das ist jetzt einfach ,die mit der Platane'“, erzählt sie lachend und öffnet währenddessen das Garagentor.
Konzipiert und geplant hat die Streetart Gallery der gelernte Kommunikationsdesigner Elmar Compes. Bereits mit anderen Streetart-Projekten – zum Beispiel am Cityring, an der Heinheimer Straße und am Hauptbahnhof sowie Stromkästen an der Stadtmauer – hat der DJ, Barbetreiber und Wandkünstler in Darmstadt schon diverse künstlerische Wohlfühlorte kreiert. Der Prozess bis zum fertigen Bild bestehe aus dem anfänglichen Brainstorming, dem Raussuchen der passenden Thematiken, der Entwicklung von Entwürfen und der Abstimmung mit dem Bauverein, der das Projekt finanziert hat, so Elmar. Daraufhin werde das Resultat als Vorlage ausgedruckt und vorgezeichnet. Am Ende dauert das Bemalen eines Garagentors im Schnitt circa zehn Stunden.
„Das schöne Gefühl dabei ist die Überraschung, die man selbst als Künstler erfährt, wenn man malt. Weil die Vorlagen doch ganz anders und die Farben und Details am Ende durch den Sprayeffekt noch viel schöner sind als gedacht“, erzählt Julian Bock („GegenGrau“) während er eine der Garagen mit einem majestätischen Hirsch bemalt. Faszinierend während der Umsetzung sei, dass der eigentlich rillige Untergrund der Garage das Bild optisch in keinem Fall negativ beeinflusst und alles greifbar und echt wirkt. So greifbar und echt, dass einen die bunte Vielfalt Darmstadts auf den 138 Garagentoren förmlich anstrahlt.