Foto: Förderverein Liberale Synagoge
Foto: Förderverein Liberale Synagoge

Am 9. November kollidieren wieder zwei historische Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte, die konträrer kaum sein könnten: der Fall der Mauer 1989 und die Reichspogromnacht 1938. Ein ambivalentes Datum im Gedenken. In der Freude über die Grenzöffnungen zwischen Ost und West droht das Entsetzen über die Gewaltexzesse an Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Herkunft in der Erinnerung allmählich zu verblassen. Dabei ist das Gedenken an den 9. November 1938 eine Verantwortung, der sich auch diese Stadt und seine Bürger immer wieder stellen sollten. Das heute relativ weltoffene, tolerante und oberbürgermeisterlich grün regierte Darmstadt war mal – man glaubt es kaum – eine braune Hochburg im Dritten Reich.

Von 1919 bis 1945 war Darmstadt Landeshauptstadt des damaligen „Volksstaates Hessen“. Eine konservative Beamtenstadt mit dem Sitz des Landesparlaments im später zerstörten Ständehaus am Luisenplatz. Noch vor der Machtübernahme erzielte die NSDAP bei der Landtagswahl 1931 bereits 45 Prozent der Stimmen Darmstädter Bürger, bei der Reichstagswahl 1933 stieg der Anteil auf 50 Prozent. Beide Werte lagen landes- und reichsweit im Vergleich weit über dem Durchschnitt.

In Darmstadt wohnten zu dieser Zeit rund 3.000 Bürger jüdischen Glaubens. Sie blickten zurück auf eine jahrhundertelange Tradition jüdischen Lebens in dieser Stadt (erster schriftlicher Nachweis aus dem Jahr 1529). Sie waren eng verbunden mit der deutschen Kultur und – trotz mancher antisemitischer Ressentiments – durchweg integriert in das bürgerliche Leben. Innerhalb der jüdischen Gemeinde Darmstadts gab es schon seit 1863 die Spaltung in eine kleinere orthodoxe und eine weitaus größere liberale Strömung. Die 1906 eingeweihte Wickopsche Jugendstilsynagoge (orthodoxe Synagoge, benannt nach dem Baumeister Georg Wickop) befand sich in der Friedrichstraße, der heutigen Bleichstraße. Direkt gegenüber: die 1876 eingeweihte Liberale Synagoge.

Mit der Machtübernahme der Nazis begann die anfangs schleichende, aber bereits systematische Diskriminierung, Beraubung und Entrechtung von Menschen jüdischen Glaubens – auch in Darmstadt. Berufsverbot und Ausschluss von Universitäten waren die Regel, Autofahren, Radiohören, Zeitunglesen, Schwimmen oder ins Kinogehen verboten. An der Orangerie, dem Woog oder der Bessunger Turnhalle hingen – von der Stadt verordnet – Schilder mit der Aufschrift „Für Juden verboten“. Der Luisenplatz hieß Adolf-Hitler-Platz.

Zerstörte Synagoge
Die zerstörte Liberale Synagoge am Morgen des 10. November 1938 | Foto: Stadtarchiv Darmstadt

Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 (in der Nazisprache verklärend als „Reichskristallnacht“ tituliert) bedeutet auch in Darmstadt eine weitere Zäsur: den Übergang von permanenter Diskriminierung mit vereinzelter Gewalt hin zum systematischen, staatlich verordneten Gewaltexzess gegen Deutsche, die sich in nichts von ihren Mitbürgern unterschieden – bis auf ihren jüdischen Glauben oder ihre jüdische Herkunft. Zu dieser Zeit lebten noch etwa 700 Juden in Darmstadt. Die erfolgreiche Zerstörung der Liberalen Synagoge in Darmstadt meldete ein Brigadrenführer der SA seinem Vorgesetzten am Morgen des 10. November 1938.

Erst im Herbst 2003 werden bei den Bauarbeiten des neuen Krankenhauses für Innere Medizin auf dem Gelände des Städtischen Klinikums Fundamentreste der in Brand gesetzten und danach gesprengten Liberalen Synagoge gefunden. Ein sofortiger Baustopp durch den damaligen Oberbürgermeister Peter Benz und die Schaffung einer städtischen Gedenkstätte – eingebettet in den Klinik-Neubau – stieß damals auf massiven Widerstand: Benz gefährde durch den Baustopp das Leben von Patienten, es sei alles mit zu hohen Kosten verbunden oder – gar antisemitisch – „für die paar Juden?“. „Unsensibel und unverständlich“, konstatiert Martin Frenzel. Der Historiker und Stadtredakteur befasst sich seit knapp zehn Jahren mit jüdischem Leben in Darmstadt und war Mitglied des „Runden Tisches“ (2003 – 2005), der die Konzeption der Gedenkstätte entwarf.

„Die Nazis stellten der Jüdischen Gemeinde damals sogar noch eine Rechnung zur Beseitigung des Schutts nach der Sprengung. Die Fundamentreste sind kein Kunstwerk. Es handelt sich hier um den erhaltenen Tatort eines politischen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Da ist es nur recht und billig, wenn wir heute als Stadtgemeinschaft die Kosten der Gedenkstätte übernommen haben. Ein Akt der wenigstens ansatzweisen Wiedergutmachung des NS-Unrechts“, kommentiert Frenzel. Der gebürtige Mainzer, selbst evangelisch getauft, veröffentlichte 2008 das umfangreiche Buch „Eine Zierde unserer Stadt: Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Liberalen Synagoge Darmstadt“, das sich eingehend mit jüdischem Leben und der braunen Vergangenheit Darmstadts befasst (P-Ausgabe 13, April 2009).

Im Januar 2011 gründete Martin Frenzel den Förderverein „Liberale Synagoge Darmstadt – Förderverein für Erinnerungskultur“, dem mittlerweile viele (prominente) Darmstädter angehören und der sich nicht ausschließlich dem Gedenken an die Liberale Synagoge widmet. Vielmehr sieht man sich als „Lobby für eine aktive Erinnerungsarbeit und für ein weltoffenes, tolerantes und liberales Darmstadt“. Über dem damaligen Eingangsportal der Liberalen Synagoge stand richtungweisend ein Spruch des Propheten Jesaja: „Dieses Haus möge offen sein für alle Völker.“

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Gedenkstätte Liberale Synagoge | Foto: Jan Ehlers
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Die Überreste der Liberalen Synagoge | Foto: Jan Ehlers

Am 9. November 2011 wurde auf Initiative des Fördervereins ein bisher namenloser Platz auf der Rückseite des Klinikums – in unmittelbarer Nähe der Gedenkstätte – nach Dr. Julius Landsberger (1819–1890) benannt, dem ersten Rabbiner der Liberalen Synagoge. Landsberger galt nicht nur als jüdischer Gelehrter, er war – scheinbar paradox – auch Orientalist, sprach fließend Arabisch und schrieb Werke über persische Geschichte. Genau das zeugte von seiner Auffassung einer liberalen und weltoffenen Glaubensauslegung.

Heute leben in Darmstadt Menschen aus über 140 Nationen, verschiedener Hautfarben, unterschiedlicher oder gar keiner Religion zugehörig. Ein Beweis für ein neues weltoffenes Gesamtbild dieser Stadt. Das Gedenken am 9. November ist dabei nicht nur ein Erinnern an die damaligen Opfer, es ist auch eine stete Mahnung, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Denn eine funktionierende Demokratie bemisst sich auch am Umgang mit ihren Minderheiten. Frenzel mahnt abschließend: „Die größte Katastrophe in unserer Zivilgesellschaft ist das Wegschauen.“

 

Einige Ereignisse und Schicksale der Novembertage 1938 sind im Folgenden aufgeführt und der Daueraustellung in der Gedenkstätte Liberale Synagoge entnommen.

„Schlägerkolonnen von SA und SS demolieren Gemeinderäume, Anwaltsbüros und Privatwohnungen. noch verbliebene jüdische Geschäfte werden zerschlagen und geplündert. […] Brutale Misshandlungen führen zu ersten Todesfällen. Aaron Reinhardt, der Herausgeber des „Arheilger Anzeigers“ erhängt sich, nachdem er vom Tod seiner Tochter erfährt. Sie stürzte sich aus Angst vor den NS-Schergen aus dem Fenster. […] Die Caféhausbesitzerin Dora Stern stirbt einige Tage später an Kopfverletzungen. Am 10. November werden die ersten jüdischen Männer ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Einige kommen nach Wochen kahl geschoren und halb verhungert zurück. Andere nicht.“

„1942 werden auch die letzten verbliebenen Juden in die furchtbare Maschinerie der „Endlösung“ einbezogen. Über 1.000 Juden, Sinti und Roma aus ganz Südhessen werden in der Darmstädter Justus-Liebig-Schule zusammen getrieben und bei dünner Wassersuppe festgehalten […] und am 20. März 1942 vor aller Augen quer durch die Stadt zum Güterbahnhof getrieben und mit Stockschlägen misshandelt. Von dort werden sie in einem Zug nach Polen deportiert. Zielort Konzentrationslager.“

 

Liberal oder orthodox?

Die liberalen Reformjuden beriefen sich auf die Blütezeit der deutsch-jüdischen Aufklärungsbewegung um 1770/1780, der sogenannten Haskala. Deren Grundgedanke besagte, dass Gottes Gebote aufgrund veränderter Lebensbedingungen immer wieder neu interpretiert werden dürfen. Daher gilt das weltweite Reformjudentum auch heute noch als weltzugewandter, toleranter und ferner von Dogmen als orthodoxe Juden, die sich auf die „reine Lehre“ und schriftgenaue Auslegung der Tora („Die fünf Bücher Mose“) und des Talmud („gesammelte Schriften der Lehren und Regeln“) beziehen.

Exempel für Liberalität

Während des deutsch-französischen Krieges 1870/71 wurden muslimische Kriegsgefangene, die französischen Kolonialtruppen angehörten, auf dem „Griesheimer Sand“ (heutiges Gelände des August-Euler-Flugplatzes) interniert. Sie äußerten den Wunsch nach einer muslimischen Predigt, was ihnen nach den 1864 in Kraft getretenen Genfer Konventionen (Regeln des humanitären Völkerrechts im Falle eines Krieges) auch zustand. Es fand sich auf Seiten der Deutschen aber niemand, der Arabisch sprach, um aus dem Koran zu rezitieren – bis auf den Rabbiner Landsberger. So verlas der Darmstädter jüdischen Glaubens vor Muslimen eine Koran-Predigt auf Arabisch.

 

Gedenken, Zuhören, Nachdenken

Gedenkstätte Liberale Synagoge

Zugang über den Klinikeingang Bleichstraße (zwischen Neubau Klinikum und Bleichstraße 19)

Öffnungszeiten: Mittwoch und Sonntag von 11:30 Uhr bis 16 Uhr