Eingeschworene Gemeinschaft (von links): Judith Mager, Felix Knorr, Oliver und Marija O’Connor-Close, Frauke Butz, Soluna Fischer | Foto: Cora Trinkaus

Am Darmstädter Südbahnhof wird das Kollektive gehegt, gepflegt – und gelebt. Ursprünglich wurde die Postsiedlung in den 50er-Jahren für die Bediensteten der Deutschen Bundespost errichtet. Der Charakter der Nachkriegsarchitektur ist auch heute noch klar erkennbar, dennoch hat sich seit jener Zeit viel getan. Einige der alten Wohnblöcke wurden abgerissen und durch neue Mehrfamilienhäuser ersetzt. Und nicht zuletzt durch ihre engagierten Bewohner:innen hat sich die Postsiedlung zu einem lebendigen, wohnenswerten Stadtteil entwickelt.

Der 2015 gegründete Verein „Gemeinsam in der Postsiedlung e. V.“ setzt sich für nachbarschaftliche Beziehungen sowie für den Natur- und Umweltschutz im Viertel ein. So soll der „Quartierladen“ in der Binger Straße ein Ort für Begegnungen zwischen Bewohnern der Siedlung sein. Hier gibt es einmal in der Woche ein kostengünstiges Mittagessen in Bio-Qualität für Senior:innen und alle, die nicht alleine Mittagessen möchten. Außerdem hat die Postsiedlung seit letztem Sommer einen Umsonstladen und seit zwei Jahren ein Biotop. Das naturbelassene Grundstück soll ein Ausgleich für die geplanten Neubau- und Verdichtungsmaßnahmen sein und als Rückzugsort für Mensch und Tier dienen. Seit diesem Jahr werden hier auch Seminare und Veranstaltungen für Kinder angeboten.

 

Nachhaltig leben

Nachhaltigkeit und Umweltschutz spielen auch für das junge Paar Marija und Oliver O’Connor-Close, die in einem der typischen 50er-Jahre-Gebäude der Postsiedlung leben, eine wichtige Rolle. Ein Jobangebot von Oliver zog die beiden im März 2018 von Kassel nach Darmstadt. Oliver arbeitet im Produktmanagement von Alnatura und begleitet dort die Einführung neuer Produkte. Nachdem sich das Paar mehr und mehr mit Themen wie nachhaltigem Konsum beschäftigte, wollte Oliver auch beruflich in die Richtung gehen: „So kann ich durch meine Arbeit jeden Tag etwas Gutes tun. Und da ich das mit Herzblut mache, kann ich mich auch vollkommen damit identifizieren. Es ist ein echtes Privileg, einen solchen Arbeitgeber zu haben.“

Ihre 48 Quadratmeter große Wohnung im dritten Stock des 38-Parteien-Hauses mit Blick über den Südbahnhof ist größtenteils mit gebrauchten Möbeln eingerichtet. Neue Dinge werden nur in Ausnahmefällen angeschafft und dann wird auf eine nachhaltige und faire Produktion geachtet. Bei nicht dringenden Dingen, die gebraucht werden, wird auch schon mal gewartet, bis einem „das benötigte Teil begegnet“ – zum Beispiel beim nächsten Sperrmüll. „Im Idealfall, wenn es sich vermeiden lässt, wird nichts Neues gekauft. Es gibt alles überall und von allem zu viel. Man braucht eigentlich nichts zu kaufen“, erläutert Oliver.

Foto: Cora Trinkaus

 

Das helle Wohnzimmer mit einer Fensterfront zur Westseite hin ist mit zahlreichen Bilderrahmen bestückt. Viele der Fotografien zeigen Reiseerinnerungen. Auch hier achten Marija und Oliver der Nachhaltigkeit wegen auf ein umweltbewusstes Reisen und meiden das Flugzeug. So wurde aus einer eigentlich eineinhalbstündigen Flugreise zu einer Hochzeit von Marijas Verwandtschaft in Montenegro eine 37-stündige Reise mit Bus und Zug. „Die ganzen tollen Erlebnisse während der Reise hätten wir, wenn wir einfach nur drüber weggeflogen wären, nicht gehabt“, erinnert sich Oliver gerne.

Der antike Schrank und die Tischgruppe vor der Reisefotowand stammen noch von Olivers Urgroßeltern. Hier genießt der leidenschaftliche Teetrinker mit englischen Wurzeln gerne seine „Teatime“ aus dem Teeservice der Großeltern. Zwischen Schrank und Sofa hat sich Marija ihre kleine Meditationsecke hergerichtet. Hier findet die studierte Soziologin nach einem stressigen Arbeitstag als Personalreferentin Ruhe und Entspannung.

 

Foto: Cora Trinkaus

Nachbarschaftsfeste und die Rettung der Wiese

Nachdem das Paar bereits über ein Jahr in ihrer Wohnung lebte und Marija auffiel, dass sie noch keine Nachbarn kennen, organisierte sie über die Plattform nebenan.de ein Nachbarschaftstreffen auf der Wiese vor dem Mehrparteienhaus. Es kamen 25 Nachbarn zusammen, darunter auch Soluna und Frauke (siehe Aufmacherfoto: Erste und Zweite von rechts), die gemeinsam in einer WG ein Stockwerk tiefer wohnen. Es wurde gegrillt, getrunken und sich ausgetauscht. Bald darauf folgten weitere nachbarschaftliche Treffen und die Wiese wurde zu einem beliebten Ort für Begegnungen und Feste.

Foto: Cora Trinkaus

 

Doch all das wäre fast nicht möglich gewesen, denn nur kurze Zeit nach dem ersten Nachbarschaftstreffen sollte die Wiese von der Wohnungsbaugesellschaft Vonovia zu Parkplätzen, Carports und Garagen umfunktioniert werden. Kurzerhand startete Marija mit ein paar Nachbarn eine Petition für den Erhalt der Wiese. Nachdem ein Artikel darüber im Darmstädter Echo erschien, wurde Bastian Ripper, der Vorsitzende des Vereins „Zusammen in der Postsiedlung e. V.“, darauf aufmerksam und half den Bewohnern der Moltkestraße 50 dabei, einen Kompromiss mit Vonovia auszuhandeln. So konnte ein kleiner Teil der Wiese erhalten bleiben und auch bei der Gestaltung der Grünfläche durften die Bewohner mitentscheiden. „Das wäre ohne das Verhandlungsgeschick von Bastian Ripper wohl nicht möglich gewesen“, sagt Marija.

Mittlerweile hat sich aus anonymen Nachbarn eine eingeschworene Gemeinschaft entwickelt. „Wir sind nicht nur Nachbarn. Es ist eher ein freundschaftliches Miteinander“, so Frauke. Man unterstütze sich gegenseitig, könne sich aufeinander verlassen und kämpfe für gemeinsame Ziele. Wie zum Beispiel bei der Protestaktion „Moltkestraße sieht Rot gegen Verkehrslärm!“ im Februar dieses Jahres: Die Bewohner der Moltkestraße 50, darunter auch Judith und Felix (Aufmacherfoto: Erste und Zweiter von links) machten durch einen rot beleuchteten Wohnkomplex sowie Kreideaufschriften auf der Straße auf die erhebliche Lärmbelästigung der Straße rund um den Danziger Platz aufmerksam. Sie fordern Maßnahmen zur Lärmreduktion, wie eine Tempo-30-Zone und die Sanierung der Straße.

 

Gemeinschaft und Freundschaft

„Es haben sich so tolle Freundschaften entwickelt“, schwärmt Marija, „die ohne das Wiesenfest wohl niemals entstanden wären“, ergänzt Oliver. In einem gemeinsamen Kellerabteil befinden sich gesammelte Gartenmöbel und Grill-Equipment, bei denen sich jeder nach Bedarf bedienen kann, um spontan eine Party auf der Wiese zu veranstalten. Gemeinsam wird sich um die Wiese und Beete gekümmert. „Die Wiese hat uns durch die Corona-Zeit geholfen. Es war schön, wenn man sich sonst nirgendwo treffen kann und sich dann einfach mal spontan oder zufällig auf der Wiese trifft und ein bisschen quatschen kann. Natürlich mit Corona-Abstand“, erzählt Marija.

Foto: Cora Trinkaus

 

Eigentlich war die Wohnung in der Moltkestraße nur zum Übergang gedacht, so hatte sich das Paar auch schon mal in einem anderen Stadtteil Darmstadts umgeschaut. Doch zurück in ihrer Wohnung mit dem hellen Wohnzimmer und dem tollen Ausblick auf den Sonnenuntergang wurde ihnen klar, dass sie auch „diese Gemeinschaft hier nicht mehr verlassen können. Man lernt ja meist erst das zu schätzen, was man hat, wenn man etwas anderes sieht“, so Oliver fast schon philosophisch.

postsiedlung.de

 

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