Grafik: Veranstalter | Mit mehr als 60 Veranstaltungen werden ab 05. September „100 Tage, 1700 Jahre – Jüdisches Leben in Darmstadt“ gefeiert.

 

Wie sähe unsere Stadt ohne Heinrich Blumenthal und seine visionäre Idee eines neuen Stadtteils, dem heutigen Johannesviertel, aus? Oder ohne Sigmund Rothschild, der das prägende Innenstadtkaufhaus (heute: Henschel) gegründet und bis zum erzwungenen Verkauf 1936 geführt hat? Wo ständen die Lilien heute, hätte Karl Heß 1928 nicht die Präsidentschaft übernommen? Sicher ist, dass Darmstadt nicht so wäre, wie es heute ist, hätten diese und andere jüdische Darmstädter nicht hier gelebt und gewirkt.

Die Geschichte der Darmstädter Jüdinnen und Juden reicht rund 500 Jahre zurück. Im Jahr 1529 sind einzelne Juden in Darmstadt urkundlich belegt. Knapp 100 Jahre später waren es um die 50 jüdische Menschen, dann wurde ein Großteil aber durch antijüdische Maßnahmen des Landgrafs Georg II. wieder aus der Stadt vertrieben. Erst im Zuge der Aufklärung und der rechtlichen Gleichstellung wuchs die jüdische Gemeinde in Darmstadt wieder. Zwischen 1815 und 1910 verfünffachte sich die Zahl der jüdischen Darmstädter auf rund 2.000 Menschen.

 

Eine wechselvolle Geschichte

Die heiner-jüdische Geschichte ist wechselvoll, eine Erzählung der Emanzipation, die aber schließlich in der Katastrophe endet: 1931 werden die Nationalsozialisten mit 37 Prozent zur stärksten Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung gewählt. Bei der Reichstagswahl im März 1933 stimmten sogar 50 Prozent der Darmstädter für die Nazis. Die jüdischen Mitbürger wurden in der Folge durch ihre nicht-jüdischen Nachbarn brutal ausgegrenzt, verfolgt und ermordet. 1938 zerstörte ein Mob aus Nazis und Sympathisanten die beiden Darmstädter Synagogen. Die letzten verbliebenen Juden wurden ab 1942 in die Mordlager Auschwitz, Maidanek, Theresienstadt und Lublin gebracht. Im Juni 1943 wurde Darmstadt von den Nazis offiziell als „judenfrei“ deklariert. Lebten vor dem Sieg der Nationalsozialisten rund 1.700 Jüdinnen und Juden in Darmstadt sind 1946 offiziell 37 Gemeindemitglieder registriert. Doch wie durch ein Wunder endet die Geschichte nicht damit.

Der Darmstädter Alexander Haas und der aus Polen stammende Joseph Fränkel bauen die jüdische Gemeinde Darmstadt wieder auf. Sie wuchs bis zum Fall des „Eisernen Vorhangs“ auf rund 100 Personen an und in der Wilhelm-Glässing-Straße entstand mit der neuen Synagoge ein Zeichen dafür, dass Jüdinnen und Juden wieder eine Heimat gefunden haben. Durch den Zuzug von jüdischen Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion ist die Gemeinde heute bei rund 600 Mitgliedern und lebt ein vielfältiges und aktives Gemeindeleben. Aber zu wenig ist in der nicht jüdischen Stadtgesellschaft über jüdisches Leben in der Geschichte und Gegenwart Darmstadts bekannt. Nur wenige Menschen wissen von dem reichhaltigen und prägenden Einfluss jüdischer Menschen auf das Aussehen und die Entwicklung Darmstadts. Noch weniger kennen „echte“ Jüdinnen und Juden und häufig sind immer noch Ressentiments vorhanden. Das soll sich ändern, dachte sich Daniel Neumann, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Darmstadt, und erhielt hierbei Unterstützung von Oberbürgermeister Jochen Partsch. Dabei bot es sich an, dass 2021 auch bundesweit das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ ausgerufen wurde (mehr online unter 2021jlid.de). Hintergrund ist, dass am 11. Dezember 321 vom römischen Kaiser Konstantin ein Gesetz erlassen wurde, in dem festgelegt war, dass Juden städtische Ämter in der Stadtverwaltung Kölns bekleiden dürfen. Dieses Dokument belegt eindeutig, dass jüdische Gemeinden bereits seit der Spätantike wichtige Bestandteile der Gesellschaft in der Region des heutigen Deutschlands waren und somit auch bereits vor dem Christentum hier heimisch waren.

Abbildung: Ventil Verlag (aus der Comic-Anthologie „Nächstes Jahr in“), Auszüge aus: Büke Schwarz: „Ludwig Meidner“
Abbildung: Ventil Verlag (aus der Comic-Anthologie „Nächstes Jahr in“), Auszug aus: Moni Port & Miriam Werner: „ICH JETZT HIER“

 

100 Tage volles Programm

Aufbauend auf diesen Anlass wurde Anfang 2020 von der Stadt unter Federführung des Oberbürgermeisters beschlossen, sich daran zu beteiligen: „Ein zentrales Ansinnen unseres Festjahres ist es, jüdisches Leben facettenreich und farbenfroh zu zeigen“, beschreibt Partsch die Intention. Ein Kuratorium, bestehend aus Vertretern der Stadt, der jüdischen Gemeinde, der Centralstation, des Staatstheaters und des Landesmuseums hat ab Herbst vergangenen Jahres mit der Erarbeitung des Konzepts und der Akquise weiterer Kooperationspartner aus der Zivilgesellschaft begonnen. Das Ergebnis ist beeindruckend: Über 60 Veranstaltungen gewähren vom 05. September bis zum 28. November 2021 einen Einblick in die unterschiedlichen Bereiche jüdischen Lebens. Geboten werden Konzerte, Ausstellungen, Workshops, Lesungen, Vorträge, Führungen, Filme, Radiosendungen, Theater oder auch Tanzperformances. Das Programm wirkt stimmig und zeigt, wie viel Engagement und Interesse von unterschiedlichen Institutionen und Organisationen in der Stadt vorhanden ist. „Die Veranstaltungsreihe soll einen unbefangenen Blick auf jüdisches Leben geben“, erläutert Neumann die Idee. „Sie soll auch zeigen, wie tief verankert Juden hier über lange Zeit waren und am öffentlichen Leben teilgenommen haben. Wir wollen das vor allem durch die Breite und Vielfalt der Veranstaltungen sichtbar machen“, so der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde.

Wichtig sei dem Kuratorium dabei gewesen, kein Programm von oben herab zu diktieren, sondern aus der Zivilgesellschaft heraus Ideen aufzugreifen, betont Neumann. Die Veranstaltungen seien somit auch ein Ausdruck davon, wie die unterschiedlichen Organisationen und Institutionen jüdisches Leben sehen. Der Fokus rücke dadurch mehr auf Darmstadt und das hiesige jüdische Leben. Aus Sicht der jüdischen Gemeinde ist die Veranstaltungsreihe vor allem ein Blick von außen auf das jüdische Leben, wobei die Gemeinde sich auch mit eigenen Programmpunkten wie der Filmvorführung des sehenswerten deutschen Films „Masel Tov Cocktail“ (19.09.) oder einem Tag der offenen Tür (20.10.) einbringt.

Abbildung: Ventil Verlag (aus der Comic-Anthologie „Nächstes Jahr in“), Auszug aus: Elke Renate Steiner: „Die Partie“
Abbildung: Ventil Verlag (aus der Comic-Anthologie „Nächstes Jahr in“), Auszug aus: Hans-Jörg Brehm: „Bet Chajim – ein Besuch“

 

Ein weiter Weg

Aber gleichzeitig zeigt die Programmplanung, dass es noch ein weiter Weg ist, bis nicht jüdische Menschen ein echtes Verständnis für das Judentum haben. Insbesondere fällt auf, dass viele Veranstaltungen am Freitagabend – also am Beginn des Ruhetags Schabbat – stattfinden, was insbesondere für religiöse Juden ein Tabu ist. Unverständlich ist, dass auch an einem der höchsten jüdischen Feiertage, Jom Kippur – dem Versöhnungstag –, Veranstaltungen angesetzt sind (2021: 15. auf 16.09.). „Das ist für uns leider ein Wermutstropfen, weil es für religiöse Juden und Vertreter der jüdischen Gemeinde nicht möglich ist, an diesen Veranstaltungen teilzunehmen. Aber das liegt in der Hand der Veranstalter“, äußert auch Daniel Neumann sein Bedauern über die Terminierungen. Seitens der Stadt heißt es dazu: „Es war allen bewusst, dass viele Veranstalter nur an bestimmten Tagen veranstalten können und – wenn wir die Breite und Vielfalt beibehalten wollen – der Freitagabend oder Samstag als Veranstaltungstag nicht völlig ausgeschlossen werden kann.“

Was auffällt, ist, dass viele Veranstaltungen den Blick in die Vergangenheit richten. Das ist natürlich wichtig und richtig, denn insbesondere der von nicht jüdischen Deutschen organisierte und durchgeführte Massenmord an den europäischen Juden während der Nazi-Zeit bildet den schrecklichen Tiefpunkt der deutsch-jüdischen Geschichte. Auch in Darmstadt sind noch zu viele Menschen geschichtsvergessen. Aber es wäre wünschenswert gewesen, wenn noch stärker auf Begegnungsmöglichkeiten mit Jüdinnen und Juden sowie dem jüdischen Leben heute gesetzt worden wäre. Aufklärung über kulturelle Besonderheiten, Rituale oder eben auch Feiertage tun not, wie nicht zuletzt die Programmplanung zeigt. Schade ist zudem, dass es keine Veranstaltung im öffentlichen, städtischen Raum gibt. Damit hätte ebenfalls ein starkes Zeichen für die Verankerung jüdischen Lebens in der Stadt gesetzt werden können.

Abbildung: Ventil Verlag (aus der Comic-Anthologie „Nächstes Jahr in“), Auszug aus: Simon Schwartz: „Seder“

 

Film und Comic eröffnen neue Perspektiven

Umso lobenswerter ist es, dass auch Formate für den Gaumen dabei sind und im Wellnitz am Kantplatz (vom 04.10. bis 10.10.) und bei Michel’s Daily Delicious in der Schulstraße (06.11. bis 11.11.) Speisen aus der jüdischen Küche angeboten werden. So lässt sich jüdisches Leben ganz nebenbei beim Mittagstisch erkunden. Darüber hinaus gibt es wichtige Ideen, die im Rahmen der Veranstaltungsreihe entstehen beziehungsweise präsentiert werden. Zum einen hat der Film „1700 Jahre später. Junge Darmstädter Juden über ihr Leben in Deutschland“ vom bekannten Darmstädter Filmemacher Christian Gropper und seiner Kollegin und Frau Barbara Struif Premiere (22.11., Centralstation). Darin werden fünf junge Darmstädter Jüdinnen und Juden in ihren Lebenswelten gezeigt, die aus ihrer Perspektive erzählen, was für sie „jüdisch sein“ bedeutet. Es ist zu hoffen, dass der Film nach der Vorstellung nicht im Archiv verschwindet, sondern als Lehrmaterial in den städtischen Schulen eingesetzt wird. Eine weitere spannende Premiere feiert der Comic-Sammelband „Nächstes Jahr in“, der auf rund 120 Seiten einen besonderen Einblick in die jüdische Geschichte zeigen soll (26.10., Centralstation). Antje Herden, Buchautorin und ehemalige P-Autorin, ist als Mit-Herausgeberin daran beteiligt. Jedem Comic sind zwei redaktionelle Texte vorangestellt, die die Zeichnungen historisch verorten und viele Details und Informationen zum Judentum vermitteln. „Die Anthologie soll einen möglichst großen Zeitraum jüdischer Geschichte in und um Darmstadt abdecken. Sie beginnt mit der Erzählung der 500 Jahre alten Haggadah, die im Landesmuseum liegt, und endet in der heutigen Zeit, die einerseits noch immer von Antisemitismus geprägt ist, in der andererseits das jüdische Leben in Frankfurt eine große Rolle im Stadtgeschehen spielt“, umreißt Herden den Inhalt. Für sie als Nicht-Jüdin sei es oft sehr schmerzhaft gewesen, sich in ihren Recherchen mit der gewaltvollen jüdischen Geschichte zu beschäftigen. Aber sie habe viel durch die Arbeiten für den Band gelernt: „Meine Sicht hat sich geschärft und ich versuche, noch offener und respektvoller zu sein als zuvor, ohne dabei befindlich zu werden.“

Der Judenhass, der im vergangenen Jahr im Zuge der Querdenker wieder fröhliche Urstände feierte, wird durch die Veranstaltungsreihe sicherlich nicht zurückgedrängt. Aber es ist ein wichtiges Zeichen dafür, dass Jüdinnen und Juden Heiner wie Du und ich sind und somit ein selbstverständlicher Teil dieser Stadt. Es bleibt zu hoffen, dass die Veranstaltungsreihe keine Eintagsfliege war und fortgesetzt wird. Denn jüdisches Leben in Deutschland 1700 Jahre nach der ersten urkundlichen Erwähnung ist unglaublich vielfältig, spannend – und normal.

 

„100 Tage, 1700 Jahre – Jüdisches Leben in Darmstadt“: weitere Programm-Highlights im September

 

„Famous Musicians of Jewish Origin“ (Auftaktveranstaltung)
Liederabend mit Werken von Viktor Ullmann, Giacomo Meyerbeer und anderen. Die US-amerikanische Sängerin Megan Marie Hart beschäftigt sich schon seit langer Zeit mit jüdischen Komponist:innen. Mit diesem Abend möchte sie – begleitet von Giacomo Marignani am Klavier – die „jüdische Seele“ feiern und mit dem Publikum gemeinsam jüdische Musik entdecken, die ein selbstverständlicher Teil unserer Kultur ist. Oberbürgermeister Jochen Partsch wird zum Auftakt eine Rede halten.

Staatstheater (Foyer Großes Haus) | So, 05.09., 18 Uhr | 16 € (ermäßigt 8 €)

 

„Exul Poeta. Der Zeus von Schwabing im neuseeländischen Exil. Karl Wolfskehl – Ein Dichter aus Darmstadt“ (Vortrag)
Eine zentrale Bedeutung im jüdischen Leben um 1900 spielte die Familie Wolfskehl in Darmstadt. Vor allem der Dichter Karl Wolfskehl (1869–1948) besitzt mit seinem Werk im Umkreis des Stefan-George-Kreises, seiner Vernetzung innerhalb des geistigen Lebens und mit dem jüdischen Schicksal des aus der Heimat Verbannten, internationale Strahlkraft. Sein Werk, besonders die Bücher „Die Stimme spricht“ und „An die Deutschen“, sind die einzigen großen Antworten auf den Nazi-Terror. Die Gedichte wurden vielen Juden zur Identität.

Galerie Netuschil | Fr, 17.09. | 19 Uhr | 10 €

 

„Versteckte Kinder“
Eine interaktive Führung über den Waldkunstpfad zum Kunstwerk von Laurie Beth Clark. In Erinnerung an jüdische Kinder, die den Holocaust in den Wäldern Europas überlebten.

Waldkunstpfad (Treffpunkt: Waldparkplatz) | Fr, 17.09. + So, 19.09. + So, 26.09. + So, 30.09. | jeweils um 15 Uhr | 8 €

 

Kneipenabend und Konzert mit Arik Dov
Das Café Menschenskinder in der gleichnamigen Werkstatt für Familienkultur in Kranichstein knüpft sowohl kulinarisch als auch musikalisch an das Festjahr an: inspiriert von der köstlichen Küche aus dem israelischen Mittelmeerraum und einem Bündel Folksongs – von der Band Arik Dov aus Leipzig.

Café Menschenskinder | Do, 30.09. | 18 Uhr | Eintritt frei, um Spenden wird gebeten

 

„Alles ist erleuchtet“ (Film): Ein junger Mann, Jonathan, sucht in der Ukraine die Frau, die während des Zweiten Weltkriegs seinem jüdischen Großvater das Leben gerettet hat. Zunächst scheint es nur darum zu gehen, unter bizarren Umständen die Fragmente der Familiengeschichte zu rekonstruieren. Doch bald gewinnt die Reise durch eine Reihe bewegender Offenbarungen überraschend an Bedeutung: Wie wichtig ist es, Erinnerungen zu bewahren? Wie gefährlich sind Geheimnisse? Wie geht man heute mit dem Holocaust um? Was bedeutet Freundschaft? Was Liebe?

Das Offene Haus | Do, 30.09. | 18.30 Uhr | 11 €

 

Komplettes Programm online: www.100tage1700jahre.de

 

Aufklärung für junge Menschen

Judenhass und Antisemitismus sind 2021 immer noch eine echte Gefahr für Jüdinnen und Juden. Mit dem Online-Projekt „Antisemitismus.wtf“ richtet sich das Netzwerk für Demokratie und Courage Hessen vor allem an junge Menschen und klärt zielgruppengerecht über antijüdische Vorurteile auf.

antisemitismus.wtf und instagram.com/antisemitismus.wtf