Gorry Gunschmann vor Expressionismus-Plakat seines Großvaters | Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

Zwei- bis dreimal in der Woche besuchte Gorry Gunschmann als Teenager seinen Großvater im Atelier, sah ihm beim Arbeiten zu und erlebte die damalige Kunstszene in Darmstadt hautnah mit. Das Atelier „Am kleinen Woog“ war ein Ort, an dem sich viele Kunst- und Kulturschaffende trafen und über die Kunst und das Leben philosophierten. Ohne damals zu wissen, dass diese Zeit ihn sein ganzes Leben lang begleiten würde, pflegt Gorry heute den künstlerischen Nachlass seines Großvaters Carl Gunschmann und verwaltet seit 2015 das Werkverzeichnis des begnadeten Künstlers. Zu dessen 125. Geburtstag stellte Enkel Gorry einen Catalogue raisonné online.

In Darmstadt bekannt geworden ist Carl Gunschmann als spätexpressionistischer Maler und Mitbegründer der Darmstädter Sezession, die sich am 08. Juni 1919 gründete. „Gunsch“, wie er von seinen Freunden seit der Schulzeit genannt wurde, etablierte sich schnell in der Kunstszene und war weit über Darmstadt hinaus gut vernetzt. Er galt seinerzeit als Ausnahmetalent, der sich vor allem mit seiner Kulturpolitik für einen kulturellen Umschwung in Darmstadt stark machte. Aus dem jungen Intellektuellen-Kreis „Die Dachstube“, für die Gunschmann in der gleichnamigen Zeitschrift und der daraus resultierenden Schrift „Das Tribunal“ Illustrationen beisteuerte, entwickelte sich ein Neubeginn, der letztendlich mit der Gründung der Darmstädter Sezession eine institutionelle und international beachtete Form erhielt. Die Vereinigung wird mit ihren progressiven kulturellen Werten als zweiter revolutionärer Aufbruch nach der Reformbewegung der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe gewertet. Insbesondere „auch das, was schockiert, muss gezeigt werden“, deklarierte Carl Gunschmann 1964 in einem Interview in Bezug auf die Ausstellungsvorhaben der Sezession: „Entscheidend ist der künstlerische Elan und dann die Qualität.“

„Mathildenhöhe Darmstadt“ (hier Gemäldeausschnitt), 1959, Öl auf Hartfaserplatte | Abbildung: Carl Gunschmann © VG Bild-Kunst

„Gunsch“ wusste sehr genau, wovon er spricht, denn ein ebenso starker Zweig seiner Biografie ist sein Werdegang als Bildender Künstler. In konsequenter Weise schuf er über sechs Jahrzehnte ein umfangreiches Werk aus Ölbildern, Zeichnungen und Grafiken. Mit seinen Arbeiten bewegte er sich bildmotivisch zwischen expressionistischen Formen und neusachlicher Distanziertheit. Er malte vor allem Porträts, Stillleben, Landschaften oder sogenannte „Paradiesische Kompositionen“, die damals ein hohes Aufsehen erzielten. Diese stilisierte Werkgruppe mit nackten Figuren in üppiger Landschaft erinnert an Utopien und die Idealkompositionen von Hans von Marées und die malerische Tradition des 19. Jahrhundert. Die geometrischen Formen, die immer wieder im Werk von Carl Gunschmann anzufinden sind, lassen sich mit den kubistischen Anordnungen von Heinrich Campendonk und Franz Marc sowie den expressionistischen Formen eines August Macke vergleichen. Als Autodidakt inspirierten Gunschmann mehrere Stilbewegungen der Bildenden Kunst, aus denen er sein ganz eigenes Formenvokabular entwickelte.

Wortmalend formulierte Kasimir Edschmid, der mit Carl Gunschmann zusammen die Sezession gründete und ein Leben lang mit ihm verbunden war, 1949 bei der Überreichung des Georg-Büchner-Preises: „Sie malen ein Arkadien mit Woogs-Luft, ein Griechenland mit dem Duft der Rosenhöhe.“ Politische Umstände zwangen Carl Gunschmann Darmstadt zeitweise zu verlassen, dennoch war er von 1915 bis zu seinem Tod 1984 als wichtigster Künstler in Darmstadt allgegenwärtig und aus dem damaligen Geschehen nicht wegzudenken.

„Sommer im Park“, 1958, Öl auf Hartfaserplatte | Abbildung: Carl Gunschmann © VG Bild-Kunst
„Blumenstillleben mit gelber Vase“, 1918, Öl auf Leinwand | Abbildung: Carl Gunschmann © VG Bild-Kunst
„Liegender Akt“, 1926, Ölgemälde | Abbildung: Carl Gunschmann © VG Bild-Kunst

Eine Hommage an den Großvater

Trotz seiner Verdienste, die heute noch in der Kulturlandschaft verankert sind, geriet Carl Gunschmann mit der Zeit in kollektive Vergessenheit. Nur einzelne Personen und Institutionen verfassten Publikationen und richteten Ausstellungen ein. Um die Bedeutung und den Stellenwert des Werkes weiter hervorzuheben, geht Gorry Gunschmann vom Martinsviertel aus den Spuren seines Großvaters nach und gestaltete einen frei zugänglichen, digitalen Catalogue raisonné. Dieser ging, anlässlich des 125. Geburtstages von Carl Gunschmann, 2020 online. Bisher wurden rund 900 Bilder identifiziert und akribisch in eine Datenbank eingepflegt. Gorry Gunschmann geht bei seinen Recherchen davon aus, dass er bisher „gerade mal die Hälfte der noch existierenden Bilder ausfindig machen konnte“. Besonders schwierig ist, so betont er weiter, eine lückenlose Dokumentation des Frühwerkes, das fast vollständig im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.

Aufgrund der Vielzahl der damals im Exil lebenden Freunde von „Gunsch“ sind die Arbeiten des Künstlers in der ganzen Welt aufzufinden. Sogar aus Amerika, Australien und Neuseeland meldeten sich Personen, die in ihrer Sammlung einen Gunschmann besitzen. Das Zusammentragen ist ein mühsamer Prozess: „Ich suche manchmal jahrelang nach Informationen zu einem Bild“, sagt Gorry Gunschmann. Es brauche neben einem langen Atem immer auch ein wachsames Auge. So erzählt er beispielsweise von einer skurrilen Entdeckung, die er beim nächtlichen Durchzappen durch die Fernsehprogramme machte und erkannte im Hintergrund eines Interviews Gemälde an den Wänden, die Ähnlichkeiten mit dem Malstil seines Großvaters hatten. Und siehe da: Nach akribischen Forschungen bestätigte sich seine Vermutung. Es war das Bild „Liebespaar in Landschaft“, ein Frühwerk Carl Gunschmanns. „Hier bin ich besonders auf der Suche und freue mich über jeden Hinweis“, betont Gorry.

Peu à peu und auf verschiedenen Wegen füllt sich das Verzeichnis, das weitaus mehr als bloß eine Hommage an seinen Großvater ist. Die globale Vernetzung kommt dem Online-Katalog zugute und so hoffen wir, dass Gorrys laufendes Projekt weiterhin spannende Geschichten rund um das Werk des Ausnahmekünstlers Carl Gunschmann bereithält.

„Selbstporträt mit Ehefrau Annemarie“, 1960, Öl auf Leinwand | Abbildung: Carl Gunschmann © VG Bild-Kunst
„Bauernmädchen vom Chiemsee“, 1941, Öl auf Holzplatte | Abbildung: Carl Gunschmann © VG Bild-Kunst
„Selbstbildnis mit Blumenstrauß“, 1917, Öl auf Karton | Abbildung: Carl Gunschmann © VG Bild-Kunst
Abbildung: Stadtarchiv Darmstadt (Gunschmanns Atelier im oberen Turmzimmer Ecke Rhein- und Grafenstraße um 1915)

 

„Gunschs“ Vita und Wirken

Carl Gunschmann wurde am 18. Dezember 1895 in Darmstadt geboren. 1910 erhielt er ein Stipendium des Hessischen Großherzogs und nahm ein Kunststudium bei Professor Adolf Beyer auf, welches er kurze Zeit später abbrach. Zusammen mit dem Dichter Hans Schiebelhuth zog er 1912 nach München, wo er die Bekanntschaft mit Else Lasker-Schüler, Karl Wolfskehl, Fritz Usinger und Adam Antes machte. Zwei Jahre später ging Gunschmann durch die Vermittlung des Generaldirektors der Frankfurter Museen, Georg Swarzenski, nach Paris und gehörte dort bis Kriegsausbruch dem Künstlerkreis des Café du Dôme an. 1915 bis 1927 beteiligte er sich mit Grafiken an Publikationen des Darmstädter Verlags „Die Dachstube“ und arbeitete unter anderem mit Joseph „Pepy“ Würth, Kasimir Edschmid, Theodor Haubach, Max Krell und Carlo Mierendorff zusammen. Mit Kasimir Edschmid gründete er 1919 die Darmstädter Sezession. 1936 wurden drei von Gunschmanns Werken von den Nationalsozialisten als „entartet“ betitelt und in diesem Zusammenhang in der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ in der Darmstädter Kunsthalle am Rheintor ausgestellt. 1937 übersiedelte er nach München. Mit seiner zweiten Ehefrau Marga bekam er 1938 Sohn Peter. 1939 zog die Familie nach Gstadt am Chiemsee. 1949 erhielt er den Georg-Büchner-Preis (als letzter Nicht-Literat). Wenig später kehrte er nach Darmstadt zurück, wo ihm die Stadt eigens das Atelier „Am kleinen Woog“ bauen ließ. Im Jahr 1957 wurde er Präsident der Neuen Darmstädter Sezession. 1960 erhielt er die Bronzene Verdienstplakette der Stadt Darmstadt, 1965 die Silberne. 1966 wurde er Ehrenpräsident der Neuen Darmstädter Sezession. 1975 erhielt er die Johann-Heinrich-Merck-Ehrung. Aufgrund einer zunehmenden Sehbeeinträchtigung schränkte er das Malen seit Beginn der 1970er-Jahre bis zur vollständigen Erblindung ein. 1978 wurde er durch den hessischen Kultusminister mit dem Verdienstkreuz Erster Klasse des Verdienstordnens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Am 26. September 1984 starb Carl Gunschmann in Darmstadt und fand auf dem Alten Friedhof seine letzte Ruhe.

Das Werkverzeichnis und weiterführende Informationen, die sein Enkel Gorry Gunschmann zusammengetragen hat, findet Ihr online auf: gunschmann.de