Da begann man als Lilienfan gerade ein wenig warm zu werden mit Markus Anfang und … zack … schon isser weg. Der Drang, sich beim ungleich größeren – aber in der Zweitklassigkeit angekommenen – Werder Bremen zu versuchen, war offenbar größer, als die nicht gerade kleinen Herausforderungen beim SVD zu stemmen. Dafür steht ab sofort Torsten Lieberknecht an der Seitenlinie, der das Abenteuer Darmstadt 98 nur zu bereitwillig und motiviert angeht.
Die Lilien und ihre Trainer, das ist so eine Sache. Im letzten Jahrzehnt coachten – Interimstrainer ausgenommen – acht Übungsleiter die Blau-Weißen. Abgesehen von den Erfolgstrainern Kosta Runjaic und Dirk Schuster (der gleich zweimal am Bölle wirkte) war es keinem von ihnen vergönnt, zwei Jahreswechsel in Darmstadt zu verleben. Die durchschnittliche Verweildauer lag bei lediglich 46 Saisonspielen. Konstanz sieht anders aus. Markus Anfang kam auf 37 Begegnungen. Es waren denkwürdige Partien. Zum einen, weil lediglich das Heimspiel gegen Regensburg im Spätsommer 2020 mit (wenigen) Lilienfans möglich war. Zum anderen, weil die Spielzeit lange überaus enttäuschend verlief.
Eine lange zähe Saison …
Gestartet mit dem Anspruch, die unter Dimitrios Grammozis erreichte Stabilisierung des Teams mit einem offensiven Ansatz zu verknüpfen, musste der Verein feststellen, dass der Plan nicht so leicht aufging. Anfang hatte vor Saisonstart gewarnt, dass es Zeit brauche, bis das Team die neuen Automatismen verinnerlicht habe. Letztlich dauerte es länger als gedacht. Das Spiel der Lilien, es veränderte sich augenscheinlich. Mehr Ballbesitz, mehr Agieren als Reagieren, mehr spielerische Ansätze. Phasenweise sah das schön aus, mitunter sogar begeisternd. Doch Anfangs Philosophie: Spieler entwickeln, guten Fußball spielen und dann erfolgreich sein, diese Philosophie verfing nicht so recht. Bei seinem Amtsantritt in Bremen fügte Anfang seiner Philosophie eine weitere Säule hinzu: den Kampf. Es werde nicht nur über das Fußballerische gehen. Man müsse sich auch herauskämpfen aus dieser Liga. Da hat jemand die richtigen Schlüsse gezogen.
Denn in Darmstadt ließ Anfangs Team das, was es sich vorne erarbeitete, zu oft liegen. Und hinten leistete es sich zu viele Patzer, die in Gegentoren und damit ärgerlichen Punktverlusten oder gar Niederlagen mündeten. Auch die Verantwortlichen bei den 98ern dürften mit dem Saisonstart nicht zufrieden gewesen sein. Der Anspruch, als Tabellenfünfter der vorangegangenen Spielzeit, war sicher, sich nach oben zu orientieren, und nicht im Mittelfeld zu stagnieren. Die Unzufriedenheit dürfte im Februar gar in ernsthafte Sorgen umgeschlagen haben. Denn vor dem letzten Saisondrittel betrug der Vorsprung auf die Abstiegszone nur noch vier Pünktchen. Anfang sprang (mit sanftem Nachdruck?) über seinen Schatten und erkor die Defensivarbeit zum Mittel der Wahl im Abstiegskampf.
… mündet in einem Lauf
Er integrierte einen zweiten Sechser ins System, der half, das Zentrum vor der Abwehr zu verdichten. Die Mannschaft stand tiefer, ließ die Gegner mehr kombinieren, konnte deren Angriffsbemühungen jedoch immer besser ausbremsen. Das eigene Spiel wurde schnörkelloser. Die Anzahl der Querpässe nahm ab, die der Steilpässe im gleichen Maße zu. Das Spiel wurde aus einer stabilisierten Defensive vertikaler angelegt, der Raumgewinn pro Pass nahm zu, die Anzahl der Pässe ins letzte Spielfelddrittel ebenfalls. Das Ergebnis: Die Lilien erspielten sich bessere Chancen (der ominöse Expected-Goals-Wert) und gestatteten ihren Kontrahenten weniger gute. Die 98er verloren in den letzten elf Partien nur einmal. Acht Spiele gewannen sie. Der Schnitt der erzielten Tore stieg pro Begegnung von 1,47 auf 2,63 – während der der Gegentore von 1,73 auf 1,36 sank. In dieser Phase holte das Team mehr Punkte als in den 23 Spielen zuvor. Der Lohn: Die beste Zweitliga-Rückrunde der Vereinsgeschichte und Platz sieben in der Endabrechnung.
Nun war man geneigt zu denken: Ende gut, alles gut. Hier ein Trainer, der die Möglichkeiten seines Teams besser einzuschätzen gelernt hatte. Dort ein Team, das wie befreit aufspielte. Doch der Kader würde nicht mehr der gleiche sein: Torschützenkönig Serdar Dursun war weg, ebenso Immanuel Höhn und der für die Balance im Spiel wichtige Victor Pálsson. Zudem endeten die Leihen von Lars Lukas Mai und Nicolai Rapp. Der Kader offenbarte vorne wie hinten mächtige Baustellen. Markus Anfang war ganz offenbar nicht bereit, sich dieser Herausforderung zu stellen. Und das, obwohl die frühzeitig verpflichteten Spieler nach seinem Geschmack sein dürften. Kicker, die angeblich ihre Stärken mit dem Ball am Fuß haben und ein Aufbau- sowie Kombinationsspiel aufziehen können. Die Verlockung, nach Bremen zu gehen, war größer. Ein namhafter Klub, der schnellstmöglich zurück in die Bundesliga will. Ob das für Anfang eine einfachere Kiste wird? Time will tell!
Lieberknecht & der SVD: It’s a match?
Der Ex-Coach darf beim Gastspiel der Bremer am Bölle – Zuschauer vorausgesetzt – einen reservierten Empfang erwarten. Viele Fans murrten in den Foren und sozialen Medien über seine Art des Coachings und die lange fehlenden Ergebnisse. Hinzu kam die Distanz durch Corona. So blieb das Verhältnis zwischen ihm und den Fans genau das: distanziert. Seinem Nachfolger Torsten Lieberknecht begegneten viele Anhänger hingegen mit Sympathie. Der Langzeit-Coach von Eintracht Braunschweig, äußerte bei seiner Vorstellung am 10. Juni glaubwürdig, wie sehr er für den Job bei den Lilien brenne und wie gerne er hierher komme. Bei Anfang hatte man das Gefühl, er sei auf der Durchreise. Bei Lieberknecht hat man das Gefühl, er will ankommen. Klar ist natürlich: Ein Honeymoon kann rasch in Ernüchterung münden. Die Ergebnisse müssen stimmen! Und dennoch besteht die Hoffnung, dass es zwischen Lieberknecht und dem SVD passt. In einem Insider-Interview für meinen Kickschuh-Blog sprach ich mit einem Braunschweiger Fan und Fußballautor über den neuen Coach, den er persönlich kennt. Demnach ist Lieberknecht bodenständig, nahbar, aber auch unglaublich ehrgeizig. Er sei jemand, dem es zuzutrauen ist, eine verschworene Gemeinschaft zu formen, der taktisch variabel spielen lasse und Spieler (auch aus dem eigenen Nachwuchs) entwickeln könne. Zudem wisse er, worauf er sich bei einem Traditionsverein wie den Lilien einlasse. Schließlich lautete Lieberknechts Abschlussarbeit zum Fußballlehrer: „Herausforderung ‚Kultklub‘. Der Spagat zwischen Tradition und modernem Fußball am Beispiel Eintracht Braunschweigs.“ Ob er diesen Spagat in Darmstadt hinbekommen wird? Prognose: Eher wie net!
Spannende neue Saison – mit Zuschauer:innen!?
Die Zweitliga-Saison 2021/22 startet am 23. Juli 2021. Dank klangvoller Absteiger aus der Beletage und traditionsreicher Aufsteiger aus der 3. Liga wird sie bestimmt als „Die beste 2. Liga aller Zeiten“ vermarktet werden. Spannend wird die Antwort auf die Frage, ab wann und unter welchen Voraussetzungen wieder wie viele Zuschauer:innen in den Stadien live dabei sein dürfen.
Aktuelle Infos und Termine online auf sv98.de
Matthias und der Kickschuh
Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!