Foto: Liu Susiraja

Seltsam, dass viele von uns nicht auf Anhieb eine*n Lieblingsfotograf*in nennen können – ganz im Gegensatz zu Schauspieler*innen oder Comedians. Warum eigentlich? Denn gute Fotografie funktioniert im Prinzip wie ein guter Joke oder ein gutes Drehbuch: Etwas vermeintlich Banales wird erzählt, bis die Pointe die Perspektive dreht und den eigenen Horizont auf das Erzählte weitet. Über Zersägungen der bürgerlichen Idylle und Körperlichkeit, die gar keine sein will: „Skurrile Fluchten – Humor in der Fotografie“ ist das Motto der 11. Darmstädter Tage der Fotografie, die ab Mitte September unsere Stadt visuell einnehmen werden (und vom 23. Oktober bis 01. November 2020 mit einer schillernden Festivalwoche schließen).

„Humor ist eine Art Erkenntnistheorie. Man erzählt eine Geschichte und im Moment der Pointe wird dem Zuhörer klar, dass er die Geschichte aus einer anderen Richtung betrachten kann. Die Pointe bewirkt eine Horizonterweiterung. Und das ist auch das Prinzip von guter Fotografie. Das geschieht durch eine Erzählung mit Umwegen und Brüchen“, erklärt Albrecht Haag, Fotograf und Veranstalter des Fotografie-Festivals.

Humor als Fluchtlinie nach vorn

Verschwistern sich Humor und Fotografie, schaffen sie es, gesellschaftliche Verhältnisse zu durchleuchten und zu überspitzen – und diese letztendlich erträglicher zu machen. Hinter einem Requisit kann sich so eine ganz neue Welt auftun. Doppelt passend dazu das titelgebende Thema: die skurrile „Flucht“ ist auf der einen Seite die praktische Flucht vor etwas wie einer unangenehmen Situation. Zum anderen ist sie die in der Fotografie gebrauchte Fluchtlinie auf einen bestimmten Punkt hin.

Foto: Candice Breitz

Tage der Fotografie 2020: Überblick über das ganze Festival

„Trautes Heim“: Vernissage am Sa, 12.09., um 18 Uhr auf dem Friedensplatz sowie von Sa, 12.09. bis Mo, 16.11. im Kunstforum der TU Darmstadt

„Zusammenleben“ und „Heide Stolz. Affären“: So, 13.09.2020 bis So, 03.01.2021 in der Kunsthalle Darmstadt

Verleihung des 8. Merck-Preises der Darmstädter Tage der Fotografie: Fr, 23.10., um 18 Uhr in der Centralstation (Ausstellung der 16 nominierten Künstlerinnen und Künstler: Fr, 23.10. bis So, 01.11. im Designhaus Darmstadt)

„Staging Identity. Zwischen Maskerade, Körperinszenierung und Rollenspiel“: Sa, 24.10.2020 bis So, 28.02.2021 im Institut Mathildenhöhe, Museum Künstlerkolonie

Symposium zur Thematisierung des fotografischen Humors in fünf Vorträgen: Sa, 24.10., ab 10 Uhr in der Centralstation

Alle Infos unter: dtdf.de

Die Ausstellung „Trautes Heim“ macht den Auftakt durch das Kunstforum der TU Darmstadt. Kuratorin Julia Reichelt schwärmt für ihre Exponate: „Viele der Fotografien setzen sich mit Rollenklischees auseinander. Anna und Bernhard Blume beispielsweise karikieren durch ihre experimentelle Selbstinszenierung und der Lust am Chaos die kleinbürgerliche Enge im Nachkriegsdeutschland.“ So wird das traute Wohnzimmer schon mal zum „Wahnzimmer“ und die zünftige Hausfrau mit gelocktem Haar und adrettem Kleid endet im „Küchenkoller“. Heiterkeit und Wahnsinn bedingen sich.

Angriff und Umarmung der eigenen Lebenswelt

Die Finnin Iiu Susiraja wird wie einige der gezeigten Künstler*innen erstmals in Deutschland ausgestellt. Betrachtet man ihren wuchtigen Körper, ist Bodyshaming das erste verlockende Deutungsangebot. Erst beim weiteren Hinsehen wird deutlich, dass sie mit der Kettensäge kleine Blumengestecke anvisiert. Der Titel „Lovely Wife“ zeigt noch klarer, dass hier ein bürgerliches Ritual der martialischen Geste zum Opfer fallen soll. Das wirkt keineswegs platt, sondern artikuliert einen subtilen, liebevollen Humor auf das eigene Erleben.

Coronabedingt gehen die 11. Darmstädter Tage der Fotografie auch raus an die frische Luft. Die Vernissage am Friedensplatz wird durch große Quader realisiert. Die Kuben werden eine Höhe von vier Meter und eine Breite von drei Metern haben. Im Herrngarten und Schlossgraben stehen knapp 30 Bilder auf Holzpfosten. Man läuft durch die Stadt und knallt förmlich gegen die Bilder. Julia Reichelt und Albrecht Haag sind sich einig: „Fotografie ist kein abstraktes Gemälde, sondern lädt das Auge unmittelbar ein, um sich anregen, schulen und unterhalten zu lassen.“ In der Open-Air-Galerie Friedensplatz ist unter anderem Erwin Wurm ausgestellt. Seine „One-Minute-Sculptures“ konnte man im Musikvideo „Can’t Stop“ der Red Hot Chili Peppers sehen. Vielleicht finden hier einige dann doch die erste eigene Lieblingsfotograf*in – wo die Nähe zum Pop doch ohnehin längst da ist.

 

Abseits der Klassiker: die Off-Spaces

„High Noon“ von Christian Retschlag: Fr, 23.10. bis So, 01.11. im Keller-Klub (im Schloss)

„Der Wunsch Vater des Gedankens“ von Patricia Paryz: Fr, 23.10. bis So, 15.11. im Literaturhaus Darmstadt

„Safari / Die Tür ins Meer / Hessdalen“ von Erik Clewe, Jana Hartmann und Ivar Kvaal: Do, 17.09. bis So, 15.11. am Osthang

„Living Room, San Francisco 2017/2018“ von Jana Sophia Nolle: Fr, 23.10. bis So, 01.11. in der Stadtkirche Darmstadt