Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

Seit 1997 trägt Darmstadt den Beinamen Wissenschaftsstadt im Titel und auf den Ortsschildern. Mit ihren Ideen, Projekten und Lösungen füllen Forschende an TU und Hochschule Darmstadt oder den Fraunhofer-Instituten dieses Label mit Leben. Das P zeigt Ausschnitte der lokalen Forschungs- und Entwicklungsarbeit: Projekte, die sich auf Gesellschaft, Umwelt und Alltag auswirken – und die Menschen dahinter.

„Los, Sarah!“, motiviere ich mich und trete dabei fest in die Pedale meines blauen Tourenrads. Ich will es pünktlich nach Hause schaffen, denn gleich kommt meine P-Kollegin Amanda vorbei, damit wir uns über die neue und für Darmstadt exklusive App „Signal2X“ austauschen können. In meinen Augenwinkeln erstrahlt bereits das kräftige Orange der Ampel. Geschafft …! Jetzt kann ich mich ausrollen lassen. Denn die nächste grüne Ampel lässt sich laut dem von Yunex Traffic (München) entwickelten Ampelphasenassistenten sowieso nicht rechtzeitig erreichen. Sobald ich mich einer Ampel nähere, wird mir auf meinem Handydisplay angezeigt, ob ich schneller strampeln, langsamer fahren oder die Geschwindigkeit beibehalten soll. Die Idee: die Geschwindigkeit so anzupassen, dass die Ampeln passiert werden können, ohne anhalten zu müssen.

Klingt spannend? Das denken wir – die P-Autorinnen Sarah und Amanda – uns auch. Und wollen wissen, was hinter der App steckt: „Signal2X“ funktioniert über ein eigens für Darmstadt entwickeltes Lichtwellenleitersystem, das Daten von 190 Knotenpunkten in der Stadt erhebt. Entwickelt wird so praktisch eine Digitalversion des Darmstädter Verkehrsnetzes: Über 3.500 Induktionsschleifen sowie 400 optische und 40 thermische Kameras sind in der Stadt platziert, um die Daten in Echtzeit an einen Verkehrsrechner zu senden. Über das konstante Erheben der Daten hat dieser Rechner alle üblichen Verkehrssituationen zu jedem Zeitpunkt an jeder Ampel gelernt und kann so nicht nur die aktuellen Daten, sondern auch errechnete Prognosen an die von Yunex entwickelte App weitergeben.

Prognosen für eine nachhaltige Verkehrsökonomie

Die Prognose des seit Mai 2023 öffentlich zugänglichen Assistenten ist laut Hersteller zu 99,8 Prozent zutreffend. Das heißt: Das Fahren auf der grünen Welle ist in Darmstadt zum Greifen nahe. Das müssen wir unbedingt selbst testen!

Auf dem Display erscheint die Frage: Auto oder Fahrrad? Meine Wahl fällt aufs Rad. Denn als leidenschaftliche Fahrradfahrerin greife ich zur Überwindung alltäglich anstehender Strecken in 99 Prozent der Fälle auf mein zweirädriges Gefährt zurück. Statt mich in überfüllte Öffis zu quetschen oder mich an Fahrplänen orientieren zu müssen, genieße ich es, bei Wind und Wetter auf Darmstadts Radwegen unterwegs zu sein. Und das am liebsten zügig – wer freut sich nicht über fließenden Verkehr? Das dachten sich auch die Entwickler:innen der App. Ihr Anliegen dahinter: einen Beitrag zur nachhaltigen Verkehrsökonomie zu leisten, indem vermeidbarer Stickstoffoxid-Ausstoß von Autos, Motorrädern und anderen Verbrennern reduziert wird. Denn sowohl Beschleunigen als auch Anfahren stößt mehr Stickstoffoxid aus als konstantes Fahrverhalten. 

Ein bisschen Verkehrspolitik ist bei dem Projekt also auch mit dabei: Die Stadt Darmstadt unterstützt „Signal2X“ als Teil des Digitalstadtprojekts „DAnalytics“ und als aktiven Beitrag zum 2018 entworfenen „Green City Plan“, der den Darmstädter:innen bessere Luft zum Atmen bescheren soll. Finanziell beteiligt sich auch das Bundesverkehrsministerium mit 50 Prozent aus dem Sofortprogramm „Saubere Luft“ an diesem „zentralen Element in einem nachhaltigen Verkehrsökosystem“, wie es Yunex-Geschäftsführender Stefan Eckert ausdrückt.

Fotos: Nouki Ehlers, nouki.co
Fotos: Nouki Ehlers, nouki.co

Selbsttest: Ablenkung mit Potenzial

Es klingelt an der Tür. 

Amanda: Entschuldige die Verspätung! Weil ich auf dem Weg die neue App getestet habe und Google Maps auf dem Bildschirm keinen Platz hatte, habe ich mich ganz verfahren. Insgesamt hat das auch nicht so gut geklappt … [lacht]

Sarah: Schön, dass Du da bist! Apropos Verwirrung: Als ich die App das erste Mal benutzen wollte, war mein erster Gedanke: Woher weiß die App, wo ich hin will? Denn außer einer Übersichtskarte mit den erfassten Ampeln im Umkreis erschien auf dem Display keine weitere Information zur Aktivierung. Nach dem Trial-and-Error-Prinzip bin einfach drauflos geradelt. An der ersten Ampel folgte der Aha-Effekt: Vor der Kreuzung ploppte die Anzeige auf. Ab dann lief’s: Übersichtlich strukturiert, ließ sich die App in der Handhabung intuitiv erfassen.

A: Vielleicht hatte ich auch nicht die besten Voraussetzungen: Bei gutem Wetter radel ich gerne, aber mein Fahrrad eignet sich eher für einen Herbstspaziergang auf Rädern als für lange Strecken. Eigentlich genieße ich rote Ampeln: durchatmen, ausruhen, fallendes Herbstlaub beobachten. Aber wenn ich ans Anfahren denke, sehen ich und meine Beinmuskeln auf jeden Fall einen Mehrwert darin, auf der grünen Welle durch Darmstadt zu fließen – deshalb wollte ich „Signal2X“ unbedingt ausprobieren. Meine Probleme mit der App fingen schon damit an, dass ich keine Handyhalterung am Rad habe. Das Handy habe ich schließlich eher dürftig im Fahrradkorb fixiert, der Bildschirm mit den Fahranweisungen war dadurch schlecht zu sehen – eine Halterung muss auf jeden Fall her! 

S: Um das Tempo vor Ampeln zu überprüfen und anzupassen, fiel mein Blick ständig auf den Bildschirm. Das war bei den häufig wechselnden Geschwindigkeitsempfehlungen (leider) auch nötig. Ergänzende akustische Untermalungen könnten und sollen die Ablenkung vom Straßenverkehr reduzieren, waren auf dem Rad allerdings nicht zu hören. 

A: Oh, ja … das dauernde Display-Gucken ist bei Stadtverkehr gefährlich, beispielsweise habe ich eine dreist auf den Fahrradweg ragende Autotür erst bemerkt, als ich sie schon fast erreicht hatte. 

S: Bei mir gab’s auch einen fragwürdigen Moment. Ein ganzes Stück vor einer roten Ampel gab’s die Empfehlung der App, mein Tempo deutlich zu drosseln. Da niemand hinter mir fuhr, sprach nichts gegen das Runterbremsen. Bei dichtem Verkehr wäre es viel zu gefährlich, der App-Empfehlung zu folgen. Denn so weit vor der Ampel rechnet niemand damit, dass man plötzlich langsamer fährt. 

A: Also eigentlich funktioniert „Signal2X“ nur, wenn alle sie benutzen und die gleichen Anweisungen erhalten. Oder aber das Problem, dass die App bislang nicht die Umgebung berücksichtigt, muss behoben werden. Zum Beispiel wurde ich bei Steigung und Gegenwind aufgefordert, noch schneller zu fahren, um die nächste Grünphase zu erwischen, was definitiv leichter gesagt als getan ist. Hast Du auch mal vergeblich in die Pedale getreten?

S: Oh, ja! Die Ampel sprang im letzten Moment dann doch früher um als laut Assistent erhofft. In meinem Fall muss es allerdings an der verzögerten Signalübertragung gelegen haben. Manchmal riss die Verbindung sogar ab und es kamen gar keine Informationen mehr durch. 

A: Was hat Dir denn an der App am besten gefallen?

S: Der Countdown bei den Rotphasen war definitiv mein Highlight. In der App werden die verbleibenden Sekunden live angezeigt, bis die Ampel auf grün umschaltet. Laut Timer: noch 20 Sekunden … also genügend Zeit, um ganz entspannt meine Jacke um die Hüfte zu binden – pure Stressreduktion! Ein solcher Timer wäre auch für Grünphasen cool.

A: Die App wird auch mit Erfahrungen wie unseren weiterentwickelt und verbessert. Was Du vorschlägst, würde auch bei anderen Störungen helfen, weil man dann aufgrund des Timers selbst einschätzen kann, ob man es noch zur Ampel schafft. Dafür wäre eine präzisere Geschwindigkeitsempfehlung auch hilfreich. 

S: Was ist Dein Fazit?

A: Als Gelegenheitsradlerin kann ich auf die Ampelassistenz verzichten. Autofahrenden, vor allem denen, die regelmäßig durch die Innenstadt cruisen müssen, würde ich „Singal2X“ doch sehr ans Herz legen, weil sie trotz ausbaufähiger Umsetzung hilft, vermeidbare Emissionen zu verringern.

S: Die App kann Orientierung bieten, man sollte sich jedoch nicht blind auf das „Okay“ auf dem Display verlassen. Zumindest bislang nicht. Aber es lohnt sich, dem Ganzen nach der Weiterentwicklung noch eine Chance zu geben. Und tatsächlich habe ich nach dem Selbsttest beim Fahren ohne Assistent an der ein oder anderen Ampel die visuellen Hinweise auf meinem Bildschirm zur Orientierung vermisst. 

Fotos: Nouki Ehlers, nouki.co

Grünes Zukunftslicht

Die noch junge App verspricht, mit jedem Download bessere Vorhersagen zu ermöglichen. Ebenso wie wir durch Ausprobieren und Erfahrungensammeln lernen, lernt „Signal2X“ dadurch, dass möglichst viele Verkehrsteilnehmer:innen die App verwenden und Daten zur Verfügung stellen. 

Und die Pläne für eine Zukunft voll fließendem Verkehr sind groß: nachdem „Signal2X“ in Darmstadt heranwachsen konnte, will Yunex Traffic das System auch in anderen Städten und Ländern etablieren – erste Testanlagen sind dafür schon installiert. Und irgendwann soll man sich nicht mehr entscheiden müssen, ob man über den richtigen Weg oder die nächste Grünphase Bescheid wissen möchte. Die KI in Navigationssysteme und gar Fahrzeuge zu implementieren sei kein Problem, so Ralf Tank, Projektleitender beim Darmstädter Mobilitätsamt. 

Wir wünschen Dir, „Signal2X“, ein gutes Großwerden in der Heinerstadt und Euch, liebe Darmstädter:innen, eine gute Fahrt auf der zumindest ein bisschen grüneren Welle!