Die Mitwirkenden:
Gisa und Hans-Joachim Sander, Wella-Erben: … wollen einen repräsentativen Museumsbau für ihre Kunstsammlung, laut FAZ „das neue ultimative Statussymbol der Superreichen“.
Walter Hoffmann, Oberbürgermeister und Kulturdezernent: … möchte in seiner Stadt die Künste leben lassen, am liebsten kostenneutral.
Nikolaus Heiss, Denkmalpfleger und „Welterbe-Koordinator Mathildenhöhe“: … setzt alles daran, Geldquellen für die dringende Sanierung seiner steinernen Schützlinge zu erschließen.
Ralf Beil, Direktor des Instituts Mathildenhöhe: … organisiert außergewöhnliche Ausstellungen moderner Kunst, will aber ansonsten die Mathildenhöhe für den Jugendstil reserviert wissen.
SOS Mathildenhöhe Darmstadt, Bürgerinitiative: … will aus unterschiedlichen Gründen den Ist-Zustand konservieren und setzt sich dafür ein, anderslautende Magistratsbeschlüsse rückgängig zu machen.
Erster Akt
Darmstadt im Jahr 2008. Die Darmstädter CDU macht die zweifelhafte Aussage: „Die größte Herausforderung an die Darmstädter Kulturpolitik ist die Entwicklung der Mathildenhöhe und das Vorantreiben des Welterbe-Projekts“. OB Hoffmann meint zwar, die Mathildenhöhe müsse sich unabhängig von dem Antrag auf Aufnahme ins UNESCO- Weltkulturerbe weiterentwickeln, außerdem hat diese lediglich symbolische Bedeutung, aber ihren Anteil am erhofften Prestigegewinn möchte sich auch die regierende Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen sichern. So wird in seltener Eintracht das Terrain in Richtung Kulturerbe-Anerkennung sondiert. Im Zuge der damit verbundenen Aktivitäten stellt sich heraus, dass mindestens ein wichtiger Punkt von der Mathildenhöhe nicht erfüllt wird: Nur komplett vorhandene Bau-Ensembles können „Welterbe“ werden, der Künstlerkolonie fehlt aber das im 2. Weltkrieg beschädigte und 1958 abgerissene „Haus Christiansen“, ein zentrales Objekt in Olbrichs Entwurf. Für solche Fälle sieht die Welterbe-Charta zwingend eine Schließung des Ensembles mit Bauwerken vor, die „den Stempel ihrer Entstehungszeit tragen“. Also keine Reproduktion des Gewesenen, sondern ein architektonisch anspruchsvoller Neubau. Der Denkmal-Beirat der Stadt empfiehlt ergo eine Bebauung des Christiansen-Grundstücks, was vom Magistrat auch mit großer Mehrheit beschlossen wird. Zum selben Ergebnis kam bereits Ende 2006 das sogenannte „Forum Mathildenhöhe“, dessen Arbeit in einer von der Stadt herausgegebenen Broschüre dokumentiert wurde.
Zweiter Akt
Angesichts leerer Kassen machen sich die Kommunalpolitiker auf die Suche nach privaten Bauherren. Ein Wohnhaus oder ein gewerblicher Bau sind an diesem sensiblen Ort schwer vorstellbar. Da trifft es sich gut, dass das Ehepaar Sander seine Privatsammlung, darunter rund 260 Kunstwerke mit Darmstadt-Bezug, schon länger öffentlich zeigen wollte, denn die Wella-Erben verfügen über das nötige Kleingeld für einen hochwertigen Museums-Neubau. Die Stadt stellt das Grundstück in 99-jähriger Erbpacht zur Verfügung und bleibt so Besitzerin mit entsprechender Verfügungsgewalt , also kein „Ausverkauf der Mathildenhöhe“ – scheinbar für alle Beteiligten eine Win-Win-Situation. Die Stiftung Sander GmbH initiiert einen international besetzten Architekturwettbewerb mit notgedrungen strengen Auflagen im Sinne der ursprünglichen Ensemble-Pläne von Joseph Maria Olbrich. Hierzu gehören die Ausrichtung und die Kubatur, also der Umfang, des Neubaus, die denen des „Haus Christiansen“ entsprechen sollen. Form und Zweck des Bauvorhabens werden von der Stadt in einer Pressekonferenz im Juli 2009 vorgestellt.
Dritter Akt
19 Architekten präsentieren ihre Entwürfe auf der Mathildenhöhe. Eine mit Experten sowie Vertretern aller am Projekt beteiligten Parteien besetzten Jury, darunter Ralf Beil und Denkmalpfleger Heiss, entscheiden sich für den Entwurf des Leipziger Büros Schulz & Schulz. Der repräsentative, aber schlicht gehaltene Klinkerbau nimmt in Material, Form und Farbe Motive historischer Gebäude aus der unmittelbaren Umgebung auf, ohne historisierend zu wirken. Aus Torfbrandziegeln und Kupfer gebaut, erscheint er wie ein jüngerer Bruder des unter Denkmalschutz stehenden ehemaligen Ledigenwohnheims am Fuß der Mathildenhöhe und des Hochzeitsturms, bei denen diese zeitlosen Baumaterialien ebenfalls vorherrschen. Die schnörkellose Ausführung versucht nicht, die umliegenden Jugendstilbauten ästhetisch zu dominieren, und dank zweier Kellergeschosse kann die benötigte Ausstellungsfläche erreicht werden, ohne den vorgegebenen Gebäudeumfang zu überschreiten. Alle eingereichten Pläne und Modelle des Wettbewerbs werden im Ausstellungsgebäude der Mathildenhöhe gezeigt, Nikolaus Heiss führt durch die Ausstellung und erläutert das Bauvorhaben. Er geht dabei nochmals explizit auf die Notwendigkeit des Baus für die Zulassung zum Weltkulturerbe ein, von der er sich endlich die Bereitstellung von Mitteln zur Sanierung der gesamten Mathildenhöhe erhofft.
Vierter Akt
Jetzt gibt’s Ärger. Ralf Beil sieht durch das zukünftige Museum Sander die in der Künstlerkolonie zwar gar nicht vorgesehene, aber von ihm so empfundene „Großzügigkeit der Mathildenhöhe unwiederbringlich verloren“, auch haben ihm die Exponate des Museums zu wenig mit Jugendstil zu tun. Er hätte den Bau lieber am Osthang des Hügels, seine Funktion als Jury-Mitglied und städtischer Angestellter verbieten ihm jedoch eine offizielle Ablehnung der städtischen Baupläne. Die schematische Abbildung des Siegermodells in der Lokalzeitung führt zu einer Fülle überwiegend ablehnender Leserbriefe, schließlich wird auch noch die Bürgerinitiative „SOS Mathildenhöhe Darmstadt“ gegründet. Ein gutes Jahr, nachdem die Stadt ihre Baupläne der Presse erläutert hat, fällt 40 Darmstädter Bürgern plötzlich ein, dass sie an dieser Stelle eigentlich gar keinen Neubau – und schon gar nicht diesen – haben möchten. Das Motto der Bürgerinitiative könnte von Erich Kästner stammen: Die Zeit fährt Auto, und wir laufen. Zu den sich hauptsächlich aus privatästhetischen Vorstellungen speisenden Einwänden gegen das Projekt bekennen sich zwar auf einer Facebook-Seite rund 700 Personen; bei einer Umfrage von ECHO-Online schließen sich allerdings auch 1600 Darmstädter der Aussage an: „Ja, ich finde Entwurf und Planung genau so gut“. Was wieder einmal zeigt, so sympathisch jede Form von Basisdemokratie auch grundsätzlich ist, dass man am besten gar nicht anfangen sollte, über Geschmack zu streiten. Denn hätte dieser dröge „Prinz-Charles-Blick“ auf moderne Architektur 1901 vorgeherrscht, wäre die damals hochmoderne Künstlerkolonie gar nicht erst entstanden.
Epilog
Private und kommunale Geltungssucht sind ein schlechter Ratgeber in der Stadtplanung. Hieraus entstehen reine Prestigeprojekte, die außer hohen Kosten fast nichts bringen, wie der geplante ICE-Bahnhof, oder zwar nichts kosten, aber jede Menge Zwietracht säen, wie die Bebauung der Mathildenhöhe zum Zweck der ohnehin höchst unwahrscheinlichen Aufnahme ins UNESCO-Weltkulturerbe. Alle politischen Parteien sollten sich endlich darüber im Klaren sein, dass es zur Durchsetzung solch sensibler Projekte nicht nur einer politischen Mehrheit bedarf. In Erfahrung gebracht werden sollte die Konsensfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, auch wenn das einmal mehr an öffentlicher Diskussion bedarf, als es die Hessische Gemeindeordnung zwingend vorsieht.
Die Wiederaufnahme des Dramas steht so gut wie sicher auf dem öffentlichen / politischen Spielplan.