In der Kirschenallee 88 in Darmstadt befindet sich das Haus für Industriekultur. Es ist ein großes historisches Backsteingebäude, das aktuell von Baustellengeländern umringt ist. Nach längerer Suche finde ich die Klingel mit der Aufschrift „Schriftgießerei Gerstenberg“. Ich klingele, doch es macht niemand auf. Stattdessen öffnet der Hausmeister mir die Tür. Mit dem Fahrstuhl geht es in den dritten Stock zu Rainer Gerstenberg, dem Besitzer der Werkstatt für Schriftgießerei. Es ist die einzige gewerbliche Schriftgießerei, die weltweit noch existiert. Noch. Denn zum Jahresende droht auch dem 76-Jährigen die Räumung seiner Werkstatt.
Rainer Gerstenberg beugt sich konzentriert über eine Schale mit geschmolzenem Blei. Er ist gerade dabei, neue Buchstaben zu gießen. Das laute Surren der Gießmaschine ist womöglich der Grund, warum er die Klingel nicht hörte. Mit etwa 40 historischen Hochdruckmaschinen stellt er Buchstaben in verschiedenen Schriften und Größen her. Aber auch florale Motive, Sternzeichen oder Schmuckanhänger werden von ihm gegossen. Gerstenberg bekommt Aufträge aus aller Welt: aus der Schweiz, aus Österreich, Portugal, aber auch aus den USA oder Japan. Die Schriften und Motive werden für die unterschiedlichsten Dinge gebraucht: „Letzte Woche hat eine Schule aus dem Odenwald angerufen, die wollten ein paar Buchstaben für ihre Schüler in einer gewissen Schrift haben.“
Während die Maschinen im Hintergrund surren und das Blei blubbert, erzählt der Schriftgießer von seiner Arbeit. Seine Karriere startete mit einer Lehre bei der D. Stempel AG in Frankfurt am Main, der größten Schriftgießerei Europas. „Ich war damals Betriebsratsvorsitzender und im Aufsichtsrat der Firma, hatte die Liquidation mitgemacht und bin dann 1986 mit der Gießerei hier nach Darmstadt gezogen.“ Doch erst 1997 kam Gerstenberg in die Räume des Hauses für Industriekultur, das seit 2001 offiziell „Außenstelle des Hessischen Landesmuseums für Satz und Druckverfahren“ heißt und damit Teil des Museums ist. Die Räume nutzt er mietfrei – auf Basis einer mündlichen Vereinbarung mit dem damaligen Museumsdirektor. „Seitdem führe ich den Leuten Buchdruck vor: wie ein Buchstabe entsteht und wie er weiterverarbeitet wird. Und dafür bezahle ich keine Miete.“ Doch mit dieser Industriekulturarbeit soll es in ihrer jetzigen Form bald vorbei sein?
Streitpunkte Energiekosten und Miete
2019 tritt der Kunsthistoriker Dr. Martin Faass seine Stelle als neuer Direktor des Hessischen Landesmuseums an. Er erfährt von der mietfreien Nutzung der Werkstatt. Dieser Zustand könne so nicht weiter fortbestehen: „Im Rahmen der steigenden Energiekosten haben wir Anfang dieses Jahres überprüft, wie es mit den Stromkosten des Hauses für Industriekultur aussieht und welchen Anteil daran Herr Gerstenberg mit seiner Werkstatt übernimmt. Dabei haben wir festgestellt, dass er keinen Beitrag zu den Energiekosten des Hauses für Industriekultur zahlt und dass er auch keinen Vertrag hat, der die Nutzung der Flächen regelt“, so Faass. Außerdem würden dem Landesmuseum die nötigen Ressourcen fehlen, die Gießerei so zu unterstützen, wie sich Gerstenberg das vorstelle – sowohl finanziell als auch personell. Wie die Räume der Schriftgießerei – und die Maschinen, die zu zwei Dritteln im Besitz des Landesmuseums seien – künftig genutzt werden sollen, ließ Faass offen und verwies auf „laufende Gespräche“.
Auch das Alter des erfahrenen Schriftgießers spielt bei der Entscheidung eine Rolle. Rainer Gerstenberg selbst würde seine Arbeit einschränken wollen, ehrenamtlich weiter arbeiten und einen Nachfolger einarbeiten. „Wenn Besucher hier ins Museum kommen, wollen sie sehen, wie ein Buchstabe entsteht. Tote Materie? Bringt nichts – und das ist das Problem“, erklärt Gerstenberg. Er selbst habe dem Landesmuseum eine Schenkung der ihm gehörenden Maschinen, Lettern und Motive aus Blei angeboten. Dies sei jedoch abgelehnt worden.
Von Gutenberg bis Gerstenberg
Aktuell läuft der Betrieb noch. Gerstenberg huscht durch seine Werkstatt von einem Regal zum anderen. Er zeigt die verschiedenen Güsse und erklärt den Nutzen der einzelnen Maschinen. Manche sind Hochdruckmaschinen, andere sind speziell für Schreibschriften ausgelegt. „Die Leute, die hier herkommen und sich alles anschauen, freuen sich. Und auch die, die bei mir bestellen, sind froh, etwas zu bekommen, was so einmalig ist“, erzählt Gerstenberg mit einem Lächeln im Gesicht.
Diese Einschätzung teilen auch die Darmstädter:innen, die sich in Form einer Online-Petition für die Rettung der Werkstatt engagieren. Adressiert ist diese an Angela Dorn, die hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, sowie an Bundes-Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Bis Mitte September wurden bereits mehr als 3.300 Unterschriften gesammelt.
Doch die Begeisterung über die Werkstatt zeigt sich nicht nur in der Petition. Gerstenberg weist auf die Abteilung für Drucktechnik hin. Der Fahrstuhl fährt in den ersten Stock. Dort arbeiten mehrere ehrenamtliche Setzer und Drucker. Sie veranschaulichen die Geschichte des Buchdrucks, von der Entstehung mit Handarbeit bis zum Maschinendruck. Ein ehemaliger Drucker führt die handbetriebene Druckerpresse vor. Ein anderer zeigt, wie Bücher aus den gegossenen Bleilettern gesetzt und sie in die Maschine eingespannt werden. „Es wäre schade, wenn es das alles nicht mehr gäbe“, bringt er sein Bedauern zum Ausdruck. Laut Museumsdirektor Faass soll die Abteilung für Drucktechnik aber weiter bestehen bleiben, die Schließung betreffe nur die Flächen der Gießerei. Doch Gerstenberg und seine Kollegen kritisieren auch den baulichen Zustand des Hauses für Industriekultur. „Dieses Gebäude ist marode.“ Steht vielleicht eine Renovierung in Aussicht? „Wenn das Land Hessen die nötigen Mittel zur Verfügung hat, wird das Gebäude auch saniert werden“, formuliert Faass unmissverständlich.
Eine Million Gussbuchstaben auf den Schrott?
Aber was wird aus der Schriftgießerei? Die Möglichkeit, neue Räume für die Werkstatt zu finden, ist für Gerstenberg undenkbar. Der Transport der Maschinen sei mit großem Aufwand und Kosten verbunden, die er nicht stemmen könne. „Außerdem gibt es im Keller etwa eine Million Gussbuchstaben, Zahlen und Motive. Die können nicht einfach irgendwo auf dem Schrott landen, das ist deutsches Kulturgut.“ Im Keller führt eine kleine Wendeltreppe zum Archiv mit den Lettern. Schriften wie „Helvetica“ oder „Palatino“, die von Apple genutzt werden, haben in diesem Archiv ihren Ursprung. Sie verdeutlichen die geschichtliche Bedeutung und Einmaligkeit dieses Handwerk.
Besuche noch möglich!
Hessisches Landesmuseum Darmstadt
Abteilung für Schriftguss, Satz und Druckverfahren
Kirschenallee 88, Darmstadt
Ihr könnt die historische Schriftgießerei und die Abteilung für Drucktechnik dienstags zwischen 10 und 12 Uhr besuchen. Der Eintritt ist frei, der Besuch aber nur nach Voranmeldung unter (06151) 3601311 oder vermittlung@hlmd.de möglich.
Die Petition „Erhalt der Schriftgießerei Gerstenberg“ steht online unter: change.org/p/erhalt-der-schriftgießerei-gerstenberg-im-hik-darmstadt
hlmd.de/museum/aussenstellen/abteilung-schriftguss-satz-und-druckverfahren.html
Von der Möbelfabrik zum schriftgießenden Museum
Der Hofmöbelfabrikant Ludwig Alter (1847–1908) ließ den viergeschossigen Bau 1905/06 vom Darmstädter Architekten Karl Klee (1871–1927) als Möbelfabrik errichten. Klee wählte für das heute denkmalgeschützte Gebäude, dem er eine klassische Gliederung gab, die damals fortschrittliche Stahlbeton-Konstruktion. Die mit gelbem Klinker verkleidete Fassade zeigt in den Fensterbrüstungen in Beton gegossene Jugendstilreliefs. Damit entwarf Klee Baudekoration im industriellen Maßstab.
Die Firma Alter, die sich auch im Flugzeug- und Eisenbahnwaggonbau einen Namen machen konnte, musste infolge der Wirtschaftskrise 1929 die Liquidation einleiten. Seit 1939 nutzte die Adam Opel AG das Gebäude als Ersatzteil- und Auslieferungslager, daher der frühere Name „Opelbau“.
1992 erwarben das Land Hessen und die Stadt Darmstadt das Gebäude von der Firma Donges Stahlbau GmbH, nach einem Umbau wurde das „Haus für Industriekultur“ 1996 von dem gleichnamigen Verein eröffnet. Seit 2001 gehört es als Abteilung für Schriftguss, Schriftsatz und Druckverfahren zum Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Der Sammlungsbestand geht auf die größte europäische Schriftgießerei D. Stempel AG (1895–1985) in Frankfurt am Main zurück. In drucktechnischen Werkstätten und anhand zahlreicher funktionsfähiger historischer Maschinen zeigt das Museum die Entwicklung im Druckgewerbe von Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre.
Quelle: Route der Industriekultur Rhein-Main