Foto: Jan Ehlers

Sommerzeit ist Transferzeit. Das heißt zugleich: Die Lilienfans dürfen wieder mächtig gespannt sein, welche Kicker in der spielfreien Zeit am Bölle anheuern. Bis Anfang Juni hatten die Verantwortlichen des Sportvereins schon vier Neuzugänge nach Darmstadt gelotst. Allesamt verdächtig jung, was an einer ganz bestimmten Erwartungshaltung liegen dürfte.

Eine ähnliche Transferpolitik fuhren die Lilien schon einmal. Vor zwei Jahren unter Torsten Frings. Nur Kevin Großkreutz, Artur Sobiech und Rückkehrer Tobi Kempe durften damals als Spieler im reifen Fußballeralter gelten. Das Gros war 23 Jahre oder jünger. Nun, das Ende ist bekannt: Der Kader entpuppte sich als unvorteilhaft zusammengestellt. Dem Zweitligaabstieg entging die Truppe nur mit Mühe und Not – und mithilfe erfahrener Spieler, die in der Winterpause nachverpflichtet worden waren. Die meisten der damals engagierten Perspektivspieler sind schon gar nicht mehr da. Lediglich Marvin Mehlem und der zuvor bereits ausgeliehene Felix Platte trugen beim letzten Saisonspiel gegen Aue noch die Lilie auf der Brust.

22 – 22 – 24 – 26

Dass der aktuelle 98er-Coach Dimitrios Grammozis die Verpflichtung jüngerer Fußballspieler mitträgt, kommt freilich wenig überraschend. Vor seinem Amtsantritt in Darmstadt hatte er bekanntermaßen jahrelang Teams im Nachwuchsleistungszentrum des VfL Bochum trainiert. Drei seiner Jungs aus dem U19-Team kamen in der vergangenen Saison bereits zu mehreren Einsätzen im Zweitligateam der Westdeutschen. Die beiden neuen Außenbahnspieler des SVD, Mandela Egbo (22) und Tim Skarke (22), dürften somit nicht zuletzt auf Grammozis‘ Betreiben hin verpflichtet worden sein. Und auch Keeper Marcel Schuhen ist mit seinen 26 Jahren beileibe noch kein alter Recke zwischen den Pfosten. Alle drei wurden von Carsten Wehlmann, dem Sportlichen Leiter der Lilien, nahezu gleichlautend eingestuft: Da war entweder die Rede davon, der Spieler sei „noch lange nicht am Ende seiner Entwicklung“ angelangt beziehungsweise angekommen, oder er sei – wie Schuhen – „weiterhin im entwicklungsfähigen Alter“. Geht man davon aus, dass die Jungs in der Presseabteilung des SVD ihre Pressemitteilungen nicht einfach nur per copy & paste erstellen, dann ist die Wortwahl ein bewusster Fingerzeig: Nicht fertige Spieler sind das Credo der aktuellen Einkaufspolitik, sondern vermehrt Spieler mit Potenzial. Erich Berko, der einzige der jüngsten Neuzugänge, der noch unter Mitwirkung von Dirk Schuster verpflichtet wurde, bekam vom Ex-Coach das Prädikat „viel Zweitliga-Erfahrung“ aufgedrückt. Dabei hat der 24-Jährige davon nur wenig mehr als Tim Skarke.

Notwendige Transfererlöse

Während Schuster also auf die Erfahrung achtete, spielt nunmehr deren Entwicklungsfähigkeit eine tragende Rolle. Das passt zur Aussage von Lilien-Präsident Rüdiger Fritsch, der nach dem Saisonende im Mai zu Protokoll gab: „Grundsätzlich ist ein Verein wie Darmstadt 98 mittelfristig auf Transfererlöse angewiesen, um den Betrieb aufrecht zu erhalten.“ Folglich müsse der Klub „auf hungrige, willige und wahrscheinlich, was das Alter angeht, junge Spieler“ setzen. Bei den Transfererlösen haben die Lilien tatsächlich noch Luft nach oben. Keeper Daniel Heuer Fernandes ist hier eine der wenigen Ausnahmen. Vor drei Jahren ablösefrei als 23-jähriger Torwart zu den Lilien gestoßen, verließ er sie nun vor wenigen Wochen für kolportierte 1,3 Millionen Euro zum Hamburger Sportverein.

Ausgeglichene Transferbilanz

Neben Heuer Fernandes erwirtschafteten die 98er laut www.transfermarkt.de auch schon für seine beiden Vorgänger, Michael Esser und Christian Mathenia, ein Transferplus von zusammen 2,5 Millionen Euro. Neben ihnen flossen noch für Sandro Wagner, Slobodan Rajkovic und Jerôme Gondorf Millionensummen. Der große Rest ging mehr oder minder so, wie er gekommen war: ablösefrei. Vom Zweitligaaufstieg 2014 bis zum letzten Winter gaben die Lilien laut der Transfermarkt-Betreiber 9,4 Millionen Euro für neue Spieler aus. Dem standen Transfereinnahmen von rund 9,8 Millionen gegenüber. Nimmt man die Worte von Lilien-Präsident Fritsch für bare Münze, dann wird der Sportverein zukünftig mehr erwirtschaften müssen, als dieses Transferplus von 400.000 Euro über viereinhalb Jahre hinweg. Auf junge Spieler zu setzen, erscheint in dieser Hinsicht Erfolg versprechender. Deren Marktwert steigt in der Regel schneller, als der von arrivierten Spielern. So hat sich der geschätzte Marktwert von Marvin Mehlem seit seiner Ankunft in Darmstadt vor zwei Jahren von 250.000 Euro auf 900.000 Euro erhöht. Für Serdar Dursun wird der gleiche Marktwert ausgewiesen. Gut möglich, dass beide schon weg sind, während diese Ausgabe des P gedruckt wurde. Schließlich werden sie vermehrt mit anderen Klubs in Verbindung gebracht.

Ein lachendes und ein weinendes Auge

Sportlich wäre das zweifelsohne ein Verlust. Wirtschaftlich ganz sicher nicht. Mehlem und Dursun kamen für zusammen 600.000 Euro. Die Einnahmen wären deutlich höher. Rüdiger Fritsch und Carsten Wehlmann würden solchen potenziellen Abgängen folglich mit einem weinenden und einem lachenden Auge begegnen. Wehlmanns alter Klub Holstein Kiel war zuletzt ein gutes Beispiel für eine gewinnbringende Transferpolitik. Alleine für Dominick Drexler, Rafael Czichos, David Kinsombi und Atakan Karazor nahm der Nordklub in den letzten zwölf Monaten über acht Millionen Euro ein. Gekommen waren sie alle noch zu einer Zeit, als Wehlmann Chefscout des Klubs war. Investiert hatte Holstein für die vier Spieler: keinen Cent!

 

Neue Saison, neue Gegengerade!

Die Zweitligasaison 2019/20 beginnt am letzten Juli-Wochenende, die aktuellen Spieltermine der 98er findet Ihr online unter www.sv98.de.

 

Matthias und der Kickschuh

Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!

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