Es war ein Quantensprung, als die Bilder Laufen lernten und die französischen Gebrüder Lumière Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrem Filmprojektor, dem Cinématographen, erstmals die großen Städte der Welt bereisten. Das Erlebnis Kino war geboren. Die Zuschauer tauchten ein in die „lebendige Fotografie“ und blühende Phantasie der Regisseure.
Nichts ist bis heute von diesem Reiz verloren gegangen, denn trotz behaglicher Wohnzimmer mit Dolby Surround und Chips-Tonne am Sofa reicht diese Bequemlichkeit nicht heran an die audiovisuelle Kraft einer großen leuchtenden Leinwand in verdunkelter Atmosphäre. Kino ist einfach gewaltiger, dramatischer, intensiver.
Nun beschränken sich Großraum-Kinos meist auf das aktuellste Filmangebot, gefiltert nach kommerziellen Gradmessern. Viele Perlen der Filmkunst gehen dabei verloren und werden meist erst Jahre später als schnöde DVD rekultiviert. Da freut es umso mehr, dass sich immer wieder Menschen finden, die als Filmvorführer eigeninitiativ werden. Auch im Großraum Darmstadt gibt es solche Helden des guten Geschmacks. Das Filmfest in Weiterstadt hat sich diesbezüglich sogar überregional einen Namen gemacht und wird in der nächsten Ausgabe des P entsprechend gewürdigt werden. Aber ebenso im Herzen und in der Peripherie Darmstadts sind Filmliebhaber aktiv.
Bergsträßer Open Air
Seit 5. Juni läuft auf der Freilichtbühne Seeheim-Jugenheim das „Bergsträßer Open Air“. Bis 23. August gibt es hier fast jeden Tag Filme der besonderen Art. Organisiert wird dieses Spektakel programmatisch von den beiden „Filmsehern“ Mareike Goebel und Marc Rückziegel aus Zwingenberg. Goebel studierte Filmwissenschaft, Rückziegel war in der Filmbranche tätig – beste Voraussetzungen also für das Paar, um ein kleines Filmfestival auch qualitativ zu stemmen. „Wir gehen übers Jahr verteilt sicher mehr als hundertmal ins Kino, um eine Auswahl zu treffen“, sagt Marc Rückziegel. Wichtigstes Kriterium sei persönliches Gefallen, nicht der kommerzielle Ertragsdruck. „Wir haben über die Jahre ein Gespür dafür entwickelt, welche Art Filme für uns und unsere Besucher wirken.“ Das Augenmerk liegt auf „schönen Geschichten“, Actionfilme findet man nicht im erlesenen Programm. So ergibt sich auch in diesem Jahr wieder eine feine Auswahl an poetischen Autorenfilmen wie „Irina Palm“, feinsinnigen Komödien wie „Juno“, politisch relevanten Filmen wie „Persepolis“ und manch Klassikern. „Ich freue mich besonders auf die Aufführungen von ‘Saint Jacques – Pilgern auf französisch’ und ‘Dialog mit meinem Gärtner’. Beide zählen derzeit zu meinen liebsten Filmen“, schwärmt Goebel.
Bereits seit neun Jahren sind Goebel und Rückziegel verantwortlich für die Veranstaltungsreihe während der Sommermonate – anfänglich im Alsbacher Schloss, seit fünf Jahren in Seeheim-Jugenheim. Die dort als Amphitheater angelegte Freilichtbühne trägt zur besonderen Atmosphäre bei. Innerhalb des parkÂähnlichen Waldgeländes im weitläufigen Schuldorf Bergstraße, einer alternativen Gesamtschule mit mehr als 2.500 Schülern, fristete die unter Denkmalschutz stehende Bühne lange einen Dornröschen-Schlaf, bis sie von den „Filmsehern“ wieder erweckt wurde. Durchschnittlich 200 bis 300 Zuschauer besuchen die Filmvorführungen, selbst bei schlechtem Wetter, denn, so Rückziegel, „wirkliche Filmfans sind wetterfest“. Die Eintrittspreise sind fair: Tribüne 6 Euro, Parkett 7 Euro, Kinopass (für 5 Filme) 25 Euro. An den nicht-filmischen Samstagen mit Kabarett, Lesungen, Open-Air-Dichterschlacht, Theater und Konzerten kommen bis zu 800 Menschen, der Eintritt kostet etwas mehr. „Geld kann man damit trotzdem nicht verdienen, aber der Spaß und die gute Laune des Publikums wiegen das auf“, resümiert Rückziegel.
Schlosshof Open Air Kino
Dem Team des Schlosskellers Darmstadt dürfte es ebenso gehen. Seit 18. Juni wird der Innenhof des Darmstädter Schlosses immer mittwochs zum Open-Air-Kino. Bis 10. September, bei schönem Wetter gar bis Mitte Oktober, werden dort ausgewählte, eher unbekannte, „unentdeckte“ Filme, oft mit politischen oder dokumentarischen Aspekten, aber auch Klassiker verschiedener Genres gezeigt. Vor dem Hauptfilm gibt es meist noch Kurzfilme regionaler Regisseure oder überregionaler Organisationen wie Amnesty International.
Schlosskeller-Geschäftsführer Jalal El Asri erinnert sich noch gut an die Anfänge des Kinos im Schlosshof: „Vor etwa 14 Jahren hatten wir mal wieder ein typisches Sommerloch und wollten das überbrücken. Zu der Zeit waren aufgrund einer Initiative der Universität viele internationale Studenten in der Stadt und denen wollten wir was bieten.“ Gerd Bausch, damaliger Geschäftsführer und Kulturreferent, kam auf die Idee, „einfach ein paar Filme zu zeigen“. Das wurde mit solcher Begeisterung vom Publikum und Team aufgenommen, dass fortan jedes Jahr das Sommerloch einfach „überfilmt“ wurde. Gerd Bausch selbst lebt mittlerweile in einem buddhistischen Kloster in Frankreich, aber es fanden sich schnell Leute – derzeit sind es fünf – die seine Idee ehrenamtlich weiterführen. El Asri beschreibt die Atmosphäre und Akustik durch den fast geschlossenen Charakter des Atriums im Schloss als „ganz besonderes Kinoerlebnis“.
Leider gab und gibt es einen Wermutstropfen für das Team. Da man für das Open-Air-Kino aus Kostengründen nur eine „nicht-gewerbliche“ Lizenz erworben hat, dürfen die gezeigten Filme nicht mehr namentlich angekündigt werden. Nur mit gewerblicher Lizenz ist dies gestattet. „Vor einigen Jahren tauchten mitten in einer Vorstellung andere Kinogewerbetreibende auf und beharrten darauf, dass wir hier Rechtsbruch betrieben. Die gewerbliche Lizenz können wir uns nicht leisten, da wir ja bewusst auf Eintritt verzichten. Also durften wir fortan keine namentliche Werbung mehr betreiben“, ärgert sich El Asri noch heute ein wenig. Aber eigentlich macht es das Unterfangen für das Publikum dadurch nur noch spannender, es weiß nicht, worauf es sich einlässt, kann aber auf die gute Filmauswahl des Schlosskellers vertrauen. Eine „Sneak Preview“ im besten Sinne. Und es gibt ja Mundpropaganda, also Ohren auf.
Bei schlechtem Wetter kommen um die 300 Leute, bei gutem Wetter bis zu 800. Nach den Filmen geht es dann zumeist im Inneren des Schlosskellers weiter mit Musik passend zum jeweiligen Film. Die Kosten deckt das nicht. „Ein Deckungsbeitrag von Null wäre schön, wird aber eigentlich nie erreicht, da Personalkosten anfallen, vor allem, um danach den Dreck zu beseitigen“, sagt Jalal. Da der Schlosskeller sogar eigens mitgebrachtes Essen und Getränke toleriert, sei der Hinweis gestattet: Hinterlasst den Platz so, wie Ihr ihn vorzufinden wünscht. Übrigens: Wer sich kurzfilmisch berufen fühlt, kann sich mit seinem Werk jederzeit beim Schlosskeller-Team bewerben.
Jeder hat sein eigenes Kino im Kopf. Aber erst im Großformat, auf Leinwand und zusammen mit anderen wird es zum wirklichen Erlebnis. Dank der Filmseher und des Schlosskellers auch abseits der Blockbuster. Anschauen.