Wenn man heute jemanden aus seinem sozialen Leben ausschließen will, dann lässt sich dieser Schritt mit großer Geste vollziehen, wenn man mag. Der Ausgeschlossene soll spüren, dass er ausgeschlossen wird, es soll ihm Schmerzen bereiten, und dafür bekommt er eine Ohrfeige verpasst, zumindest eine, die ihm emotional weh tut.
Wer heute jemanden aus seiner Freundesliste bei Facebook entfernt, entscheidet sich für einen hochamtlichen Akt, es ist sozusagen die moderne Beurkundung der aufgelösten Beziehung. Und – gemessen an der Reichweite von Facebook – wird darüber die ganze Welt informiert. Wobei das Kräfteverhältnis immer klar ist. Derjenige, der entfernt, hat die Macht: DU bist nicht mehr MEIN Freund. Und alle sollen es wissen.
Jürgen Seeberger wurde auch entfernt – sowohl real als auch virtuell. Nachdem dann auch das letzte Vorstandsmitglied beim SV Darmstadt 98 merkte, dass der neue Trainergott im Alltag etwas hinter seiner Performance im Vorstellungsgespräch zurückblieb, musste er wieder gehen.
Nach dieser Trennung wirkten die „Lilien“, als ob sie schnell alle Spuren beseitigen wollen, die auf dieses Missverständnis hindeuten konnten. Denn nicht nur, dass Seeberger in seiner anfänglichen Vergötterungszeit so viele Facebook-Freundschaftsanfragen von Darmstädtern und sogar von Reportern des Hessischen Rundfunks (!) bekam, als sei er ein Popstar – nein, der Verein verneigte sich regelrecht vor ihm. Denn kurz nach Seebergers Einstellung flackerte auf der Homepage der „Lilien“ ein Satz wie von einer Werbeagentur erfunden auf: „Hier riecht’s noch nach Fußball.“ Klang lustig – und war eine stimmige Beschreibung des Böllenfalltorbetriebes, der wenig mit der gefönten Welt des Profisports zu tun hat.
Das wollte Seeberger mit diesem Satz ausdrücken, wenn man ihn darauf ansprach, dass er nun in einem Umfeld tätig ist, das einige Defizite hat. Die „Lilien“ übernahmen diesen Satz mit Begeisterung, weil ihnen endlich jemand die Arbeit abgenommen hatte, einen Beitrag zur Herausbildung der eigenen Identität zu liefern. „Hier riecht’s noch nach Fußball“ – herrlich, damit konnte man sich endlich von der restlichen Liga abheben und die Darmstädter Mangelwirtschaft für cool erklären. Schwupps, flackerte der Satz nur wenige Tage nach Seebergers Arbeitsaufnahme am Böllenfalltor auf der Homepage der „Lilien“. Der Trainer hatte ganze Arbeit geleistet, weswegen man sich fragte, was so die Werbeagentur macht, die den Verein ja auch irgendwie betreut.
Seeberger ist längst wieder weg – und auf der Homepage riecht es nicht mehr nach Fußball. Der Satz ist verschwunden! Warum eigentlich? Inhaltlich hat sich doch nichts geändert. Wer sich am Böllenfalltor ein Stehplatzticket kauft, erwirbt die Option, bei Regen bis auf die Knochen nass zu werden; Frauen, die auf Toilette müssen, erleben in den stationären und portablen Sanitärräumen eine Atmosphäre wie in den Bedürfnisanstalten auf dem Heinerfest oder beim „Grohe“ in den achtziger Jahren.
Offenbar nehmen die „Lilien“ lieber einen Rückschritt ihres bescheidenen Identitätaufbauprogamms in Kauf, als dafür die Erinnerung an Jürgen Seeberger wach zu halten. Aber vielleicht will man schlichtweg nicht selber täglich damit konfrontiert werden, dass diese Personalie niemandem gut getan hat. Oder: Seeberger selbst hat das Copyright an seinem Satz angemahnt und angeordnet: „Wenn wir schon keine Freunde mehr sind, dann soll das auch alle Welt wissen.“