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Silvester ist ein magischer Moment im Jahr, der die Menschen in Deutschland und weltweit miteinander verbindet. Ein globales „Wir“-Gefühl kommt auf. In der Soziologie spricht man auch davon, dass „Events der seelenlosen Rationalität unserer heutigen Welt wieder Leben einhauchen“. Brauchen wir heutzutage solche Tage, um uns nicht in dieser von Individualisierung geprägten Gesellschaft zu verlieren? Silvester ist ein Tag wie kein anderer im Jahr, ein Ausbruch aus dem Alltäglichen. Für eine Nacht ist Lärm kein Tabu. Die Menschen kommen zusammen und begrüßen gemeinsam mit dem Zünden von Raketen das neue Jahr. Das Feuerwerk scheint in Deutschland und anderen Teilen der Welt fester Bestandteil dieser Nacht zu sein. Ohne Feuerwerk wäre Silvester für viele kein richtiges Silvester. Doch ist es das wert, wenn man sich die klimatischen Folgen – Stichwort: Feinstaub – ansieht?

Ich komme ursprünglich aus einem Dorf im Odenwald, eigentlich ist bei uns nie etwas los. Doch an Silvester sieht man Menschen auf der Straße, es ist laut – richtig was los; Funken, die am Himmel verglühen. Das hat mir immer gut gefallen. Der Brauch zu böllern – also Sprengstoff bei Festen zu verwenden – soll aus dem China des frühen 12. Jahrhunderts stammen. 1379 soll es in Italien das erste Feuerwerk in Europa gegeben haben, 1506 das erste in Deutschland. Und auch heute halten viele an der Tradition fest. Mehr als 130 Millionen Euro investieren die Deutschen jedes Jahr in Böller, Raketen und „Wilde Bienen“. Die pyrotechnische Industrie beschäftigt etwa 3.000 Mitarbeiter in Deutschland, die Fertigung findet allerdings fast ausschließlich in Fernost statt. Wenn sich in der Nacht des 31. Dezembers das Jahr 2019 verabschiedet, wird es wieder krachen in Deutschland. Doch was finden wir eigentlich so faszinierend an Feuerwerken?

Spiel mit dem Feuer

Wenn mein Vater Glasflaschen in unserem Hof verteilt hat und darin mutig die Raketen mit einem Streichholz anzündete, habe ich mich unter dem Mantel meiner Mutter versteckt. Laut dem Evolutionspsychologen Daniel Fessler von der University of California faszinieren sich vor allem Jungs und Männer für das Böllern. Dies liege darin begründet, dass die industrialisierte westliche Gesellschaft keinen täglichen Umgang mit offenem Feuer pflegt und somit Feuer als riskant oder verboten gilt. Dieser verbotene Umgang wird in unserer Kultur als männlich angesehen.

Angst weggeböllert

Feuerwerke sind alles andere als Alltag. Silvester ist auch juristisch gesehen ein Ausnahmetag, denn nur an diesem Tag ist es für jeden (über 18-Jährigen) erlaubt, Böller, Raketen und Co. zu zünden. Doch was genau gibt uns am Böllern ein gutes Gefühl? Aus psychologischer Sicht spielt einmal der Faktor der Selbstwirksamkeit (= die Überzeugung einer Person, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können) eine Rolle. In dem wir die Rakete in ein Behältnis stecken und selbstständig anzünden, merken wir, dass wir es sind, die etwas bewirken. Nämlich eine große Explosion. Ein anderer Punkt, welcher uns gerne böllern lässt, ist die sogenannte Angstlust. Wir begeben uns lustvoll in eine Situation, die uns eigentlich Angst macht (vergleichbar mit Achterbahn fahren oder Horrorfilme schauen). Nach dem ersten Schreck können wir stolz sein, wie wir mit solchen Herausforderungen umgegangen sind. Wir böllern unsere Angst an Silvester also praktisch weg.

Papierschnipsel und Geschirr statt Raketen

Aber blicken wir einmal über den Tellerrand. Zum einen wird der Beginn eines neuen Jahres nicht überall auf dem Globus am 31. Dezember gefeiert. Je nach gewähltem Kalendersystem – lunar, solar oder lunisolar – wird Mitte Januar, Ende Januar oder auch im September gefeiert. Zudem gibt es in vielen Ländern Silvesterbräuche, die sich als Alternative zum Knallern und Böllern eignen.

In Buenos Aires fliegen neben Raketen auch Papierfetzen durch die Luft. Die Leute befreien sich von den Altlasten des Jahres, indem sie alten Papierkram zerschneiden. Die Schnipsel werfen sie aus dem Fenster, was schneeweiße Straßen zur Folge hat. Doch leider auch viel Arbeit für die Straßenkehrer. Wer es noch umweltfreundlicher möchte, kann sich ein Beispiel an den Franzosen nehmen: Während der Nachthimmel dunkel und die Straßen leer bleiben, begnügen sich unsere Nachbarn damit, zu Hause mit Freunden oder Familie das letzte große Mahl des Jahres zu genießen. Traditionell mit – Tierschutzalarm! – Stopfleber sowie Austern und Champagner. In Spanien isst man bescheidener: Dort werden um Mitternacht zwölf Weintrauben verspeist – mit jedem Glockenschlag eine. In Dänemark hingegen ist es Brauch, sich gegenseitig das ausgediente Geschirr an die Haustüren zu werfen. Das macht auch viel Lärm und Müll, aber hinterlässt bedeutsam weniger Feinstaub.

Bäume statt Böller

Wer trotz allem nicht aufs Böllern verzichten möchte, kann es wie die Isländer machen: Dort kauft man das Feuerwerk beim örtlichen Rettungsdienst. Als Alternative bietet dieser seit 2018 auch an, Setzlinge für Bäume zu kaufen. Aus der Aktion „Wurzeln schießen“ soll ein kleiner Wald entstehen. Ähnliche Spendenaufrufe gibt es auch hierzulande von diversen Hilfsorganisationen. Die Initiative „Bäume statt Böller: 100 Jahre Natur statt 10 Sekunden Effekt“ zum Beispiel setzt sich dafür ein, dass deutsche Bürger statt Feuerwerkskörper Waldaktien kaufen. So konnten schon 15 Klimawälder realisiert werden.

In Deutschland ist um Mitternacht aber immer noch das Feuerwerk das Nonplusultra. Genauso wie in großen Teilen der USA, in Russland oder Australien. In Sydney findet – mit 12 Minuten Länge – jedes Jahr das wohl opulenteste Feuerwerk der Welt statt. In Frankreich, Griechenland und England ist es hingegen eher unüblich, privat Böller zu zünden. In Paris ist sogar der Verkauf von Feuerwerkskörpern untersagt. Dafür gibt es am Eiffelturm eine von der Stadt Paris finanzierte Licht- und Lasershow – so auch am London Eye. Auch große chinesische Städte wie Shanghai oder Hong Kong bieten komplette Nachtshows an, obwohl auch hier um Mitternacht ein großes Feuerwerk dazugehört.

Die immense Feinstaubbelastung (siehe Infobox), Müllberge, Sachschäden und verängstigte Tiere sprechen aber an sich gegen die beliebte Tradition. Wobei hier vor allem die private Böllerei in der Kritik steht. Es scheint radikal, diese einfach humorlos und grundsätzlich zu verbieten. Aber vielleicht schafft es die Stadt Darmstadt ja in naher Zukunft, ein zentrales Feuerwerk zu veranstalten und so das private Raketenschießen zu reduzieren. Schließlich können wir uns nicht vor der Tatsache verstecken, dass die Umwelt unsere Hilfe und vor allem unser Umdenken braucht.

 

Explodierende Feinstaubwerte

Vor allem Asthmatiker, Menschen mit Herz-, Kreislauf- und Atembeschwerden leiden darunter: unter der Silvesterböllerei. In nur einer Nacht landen dem Umweltbundesamt zufolge 4.500 Tonnen Feinstaub in der Luft – rund 16 Prozent der Menge, die im ganzen Jahr auf Deutschlands Straßen aus Auspuffen rausgeschleudert wird. Auch in Darmstadt ist die Feinstaubkurve an Silvester 2018 steil nach oben geschossen: von 10,6 Mikrogramm pro Kubikzentimeter Luft um 16 Uhr auf 467,2 Mikrogramm um 1 Uhr nachts.

Noch ein bisschen Feinstaub-Nerd-Wissen: Wesentlich gesundheitsschädlicher als Feinstaubpartikel mit weniger als 10 Mikrometern Durchmesser (deshalb die Bezeichnung „PM10“) sind Körner, die kleiner als 2,5 Mikrometer sind. Sie sind so winzig, dass sie laut Weltgesundheitsorganisation bis in die Lungenbläschen gelangen können. In Darmstadt werden die „PM 2,5“-Werte erst seit März 2019 offiziell vom Landesumweltamt gemessen. Inoffizielle Werte bekommt man auf www.luftdaten.info. Dort veröffentlichen Menschen ihre mehr oder weniger genauen Ergebnisse von selbst gebastelten Feinstaubmessgeräten. Zudem hat das OK Lab Stuttgart eine Anleitung publiziert, wie man ein solches Messgerät mit einfachen Mitteln selbst basteln kann.