Foto: Stefan Holtzem, holtzem.com

Davon war im Sommer 2018 nicht unbedingt auszugehen, dass die Lilien soeben einen vereinshistorischen Transfer getätigt haben. Drei Jahre später lässt sich mit Fug und Recht behaupten: Serdar Dursun hat abgeliefert! So sehr, dass er als einer der besten Torjäger des SVD in die Annalen eingehen wird. Helal olsun! [„Hut ab!“]

Am 1. August 2018 gaben die 98er den Transfer des lange erwarteten Top-Angreifers bekannt. Wer allerdings mit einem namhaften Neuzugang gerechnet hatte, der war schief gewickelt. Die Lilien präsentierten einen gewissen Serdar Dursun, der vom Ligakonkurrenten aus Fürth ans Bölle kam. Serdar wer? So dürften die meisten gedacht haben. Kein Wunder, hatte er in Fürth doch gerade mal 13 Zweitligatreffer in 59 Partien erzielt. Und er sollte nun also das Vakuum im Sturmzentrum füllen, das zwei Jahre zuvor Sandro Wagner hinterlassen hatte? Zweifel waren angebracht. Der damalige Lilien-Coach Dirk Schuster freute sich hingegen sehr, „einen körperlich präsenten Spieler“ gewonnen zu haben, „der viel für das Team arbeitet und seine Torgefahr in der 2. Liga bereits nachgewiesen hat“. Was man halt so sagt, wenn man seine Transferpolitik begründet.

Nur wenige Tage später setzte Dursun jedoch ein Ausrufezeichen hinter seine Verpflichtung. Zum Saisonauftakt gegen den SC Paderborn 07 erhielt er prompt den Vorzug vor Terrence Boyd. Und als der Alleinunterhalter im Sturmzentrum in der 90. Minute ausgewechselt wurde, erntete er reichlich Applaus. Schließlich ging der Treffer des Tages auf sein Konto. Na, das war doch was! Im Verlauf der Saison sollte der SVD in die fast schon notorische Abstiegsgefahr geraten. Dursun blieb jedoch eine verlässliche Konstante. Er fehlte nur in einer Partie, spielte ansonsten stets von Beginn an. Auch Dimitrios Grammozis, der Schuster im Februar 2019 beerbt hatte, hielt an dem groß gewachsenen Stürmer fest. Elf Tore und sieben Vorlagen konnten sich am Ende sehen lassen.

Ein kritischer Moment

Auch in der Saison 2019/20 blieb Dursun Angreifer Nummer eins. Und doch hätte am 10. November seine Karriere im Lilien-Trikot eine andere Wendung nehmen können. Am damaligen 13. Spieltag empfing der erneut im Tabellenkeller steckende SVD den SSV Jahn Regensburg. Dursun hatte bis dahin nicht an seine Treffsicherheit aus der Vorsaison anknüpfen können. Nur in zwei Ligaspielen war er erfolgreich gewesen. Gegen Regensburg lief wenig zusammen und dann gerieten die 98er auch noch in Rückstand. Als der Schiri nach einem Foul an Dursun auf Strafstoß entschied, keimte Hoffnung auf. Und was machte der Torjäger? Legte einen absurden Anlauf hin (Grüße an den Italiener Simone Zaza, der bei der EURO 2016 ähnlich trippelnd anlief) und … jagte den Ball über die Latte. Was folgte, war der Zorn vieler Fans. Deutlich vernehmbar forderten sie: „Dursun raus!“ Dem harsch Kritisierten war seine Torgefahr abhandengekommen. Zudem traf er in den Partien schon mal egoistische Entscheidungen und seine ab und zu eingestreuten Kabinettstückchen sahen einige Fans ebenfalls ungern. Die arrogante Elfer-Ausführung passte ins Bild. Ein kritischer Moment! Und wie reagierte Dursun? Ließ sich nicht beirren und schnürte noch im gleichen Spiel einen Doppelpack. Nerven scheint der gute Mann nicht zu haben! In der Rückrunde der Saison 2019/20 ging bei ihm der Knopf dann so richtig auf. Seine Saisonbilanz: 16 Ligatreffer und sechs Torvorlagen.

Kein Wunder, dass viele im letzten Sommer mit seinem Abgang rechneten. Derby County wollte ihn und dürfte längst nicht der einzige Interessent gewesen sein. Die Lilien blieben allerdings standhaft und ließen ihren Torjäger nicht ziehen. Zurecht, denn in der zurückliegenden Saison lief es für unsere Nummer 19 unter Markus Anfang weiterhin prächtig. 29 Kisten (inklusive DFB-Pokal) steuerte er bei. Mit 27 Treffern sicherte er sich gar die Torjägerkanone der 2. Bundesliga. Damit war er die Lebensversicherung der zwischenzeitlich erneut kriselnden 98er. An mehr als jedem zweiten Lilientreffer war er als Torschütze oder Vorlagengeber beteiligt. Seine Klasse unterstrich er im Saisonendspurt: Im Duell gegen das Meisterteam aus Bochum lieferte er sich über lange Phasen des Spiels ein heißes Duell gegen Abwehrhüne Armel Bella-Kotchap. Und als das Spiel in Richtung der Gäste zu kippen drohte, da erzielte Dursun in der Crunchtime einfach zwei Treffer zum 3:1-Sieg. Im letzten Heimspiel gegen Heidenheim setzte er dem Ganzen die Krone auf und schnürte einen Viererpack, nur um im letzten Saisonspiel mit seinen beiden Treffern Holstein Kiel den direkten Aufstieg zu verwehren. 17-mal netzte er in den letzten elf Saisonspielen ein. Wahnsinn! Das erinnert an eine Torquote von Rainer Künkel, der Ende 1975 in acht Zweitligaspielen elf Tore für die Lilien erzielte. Sein Lohn damals: ein Wintertransfer zu Bayern München.

Zahlen, die für sich sprechen

Zu den Bayern wird es Serdar Dursun nicht ziehen. Er wird aber dennoch bei einem namhaften Klub unterkommen. Erstligist und Europapokalteilnehmer Union Berlin soll stark um ihn buhlen. Bei den Lilien werden seine Tore fehlen. Ebenso seine Fähigkeiten, es allein mit kantigen Verteidigern aufzunehmen. Er war der Zielspieler im Zentrum, der mit dem Rücken zum Tor und dem Gegner im Rücken den Ball festmachen und verteilen musste. Etwas, das er mit seiner Robustheit und Technik immer besser verstand. Und im Strafraum, da fühlt er sich pudelwohl. In 107 Partien trug er das Lilien-Trikot. Lediglich in fünf Begegnungen kam er nicht von Beginn an zum Zug. Dabei brachte er es auf schier unglaubliche 80 Torbeteiligungen. Mit 59 Toren liegt er in der ewigen Klub-Rangliste an Position drei! Vor Vereinslegenden wie Walter Bechtold (52) und Bruno Labbadia (47) – und deutlich vor Dominik Stroh-Engel (42), der vor einigen Jahren die 3. Liga in Schutt und Asche ballerte, dann aber in den höheren Ligen an seine Grenzen stieß. Nur Uwe Kuhl (74) und Peter Cestonaro (92) blieben für Dursun unerreicht. Im Schnitt erzielte Dursun in mehr als jedem zweiten Spiel einen Treffer. Von den Spielern, die mehr als 50-mal das Lilien-Trikot trugen, übertrumpft ihn nur Horst Neumann um Haaresbreite, der vor über 40 Jahren in zwei Zweitligaspielzeiten auf einen Schnitt von 0,56 Toren pro Spiel kam.

In den drei Jahren beim SVD hat Dursun seinen Marktwert mehr als verdreifacht. Außergewöhnlich für einen bald 30-Jährigen! Und so bleibt es bitter, dass Dursun die Hälfte seiner Spiele vor leeren Rängen bestreiten musste. Die Anerkennung von dort, sie blieb ihm verwehrt. Vielleicht wäre er nicht von allen geliebt worden, aber auf jeden Fall geschätzt! Einen solchen Stürmer werden wir lange nicht mehr am Bölle sehen. Einen technisch versierten, aber auch kompakten Goalgetter. Einen überaus professionellen, ehrgeizigen Angreifer, und: einen enorm treffsicheren. Vielen Dank, Serdar. Herşey gönlünce olsun! [„Alles Gute!“]

 

Matthias und der Kickschuh

Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!

Die aktuelle Ausgabe des Kickschuh-Blogs ist der erhellende Gastbeitrag eines Nürnberger Sportjournalisten: Florian Zenger analysiert die zurückliegende Lilien-Saison und untermauert seine Aussagen mit Statistiken. Unter anderem zeigt er, welche Umstellungen zum starken Saisonendspurt der 98er beigetragen haben.

Dazu Matzes Insider-Interviews zu den bisherigen Lilien-Neuzugängen – Zitat: „Klingt erst mal vielversprechend bis entwicklungsfähig.“