Foto: Radentscheid Darmstadt

Es ist 2020. Seit Jahren wird übers Klima debattiert. Wir alle wissen, dass Fahrrad fahren besser ist als ins Auto zu steigen. Immer mehr kaufen Lastenräder, beteiligen sich an Carsharing-Modellen und geben sich Mühe, möglichst oft den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen. Wir machen das selbst, jeder in dem Ausmaß, das für ihn persönlich tragbar ist. Dass jeder Einzelne noch mehr tun könnte, ist klar. Dass viele schon sehr viel tun, unbestreitbar. Wer bisher verhältnismäßig wenig tat, ist unsere Stadt. Könnte man sagen. Man könnte auch aufführen, wie viele kleine Schritte sie schon gemacht hat, dass es viele gute Vorhaben und Vorsätze gibt und immerhin einen grünen OB, der selbst mit dem Drahtesel durch unser schönes Darmstadt radelt.

Es ist 2020. Wir leben in einer Bürokratie. Daran kann ein Virus nichts ändern, das Privatpersonen, Nachbargemeinschaften, Eltern, Einzelhändler*innen und Gastronom*innen erfinderisch macht, ihre Flexibilität herausfordert, sie über ihre eigenen Grenzen hinaustreibt. Der bisher unmöglich Geglaubtes möglich macht, Menschen zusammenbringt, die sich nicht immer leiden können, aber die nun pragmatisch denken. Pragmatismus, Flexibilität, Erfindungsreichtum: Das sind drei Wörter, die in den vergangenen Monaten von Heiner*innen gelebt wurden. Und die sich die Bürger*innen nicht nur vom Staat, sondern auch von ihrer Stadt wünschen.

Eine konkrete Forderung ist die nach spontanen, unbürokratischen Anpassungen des Verkehrsraums in unserer Stadt. Denn obwohl wir kurzfristig feststellen konnten, dass der Autoverkehr weniger geworden war: Mittlerweile sind wir alle wieder mehr unterwegs – und viele Menschen meiden wegen des Infektionsrisikos die öffentlichen Verkehrsmittel. Lange nicht alle von ihnen steigen aufs Rad um. Nachvollziehbar. Rad fahren in Darmstadt ist kein besonderes Vergnügen – und ein sicheres schon gar nicht. Erst Anfang Mai kam wieder ein Radfahrer an der Kreuzung Frankfurt Straße/Kasinostraße ums Leben, weil er von einer Straßenbahn erfasst wurde. An der Unfallstelle steht nun das siebte Ghostbike der Stadt, ein weiß lackiertes Fahrrad, welches vom Radentscheid Darmstadt in Gedenken an den Verstorbenen aufgestellt wurde und alle Menschen daran erinnern soll, rücksichtsvoll und umsichtig am Straßenverkehr teilzunehmen. Doch es sind nicht nur die einzelnen Verkehrsteilnehmer*innen, die zur (Un-)Sicherheit im Radverkehr beitragen. Diverse Fahrradwege in Darmstadt sind in desolatem Zustand, enden im Nichts – oder sind einfach zu schmal, um sicheres Radfahren neben Autos und Lkw zu gewährleisten. Diese Tatsache wird durch die aktuellen Abstandsregeln und -bedürfnisse noch verstärkt, denn auf den bestehenden Fahrradwegen Abstände von 1,50 Metern einzuhalten, ist schlicht unmöglich.

Immerhin: Die seit Ende April in Kraft getretene novellierte Straßenverkehrsordnung schreibt vor, dass beim Überholen von Fahrradfahrer*innen neuerdings innerorts 1,50 Meter, außerorts sogar 2 Meter Abstand einzuhalten sind. Ist das nicht möglich, dürfen Autofahrer*innen nicht überholen. Zum Juni startete die Stadt Darmstadt in Zusammenarbeit mit den selbst ernannten „Fahrradlobbyisten“ vom ADFC, der Initiative Radentscheid und Heag mobilo eine Kampagne, die Autofahrer*innen mit dem Schriftzug „Mindestabstand beachten!“ und einer erklärende Grafik auf den Heckflächen von fünf Bussen daran erinnern soll, diese Regel einzuhalten. Ein schöner Move – aber bisher leider einer von sehr wenigen, bei denen Stadt und Radfahraktivist*innen so richtig an einem Strang ziehen.

Die Pop-up-Radwege jedenfalls, die in den vergangenen Monaten angesichts der Coronapandemie in vielen Städten weltweit entstanden sind, haben in Darmstadt die Aktivist*innen im Alleingang initiiert. Nicht nur der ADFC hält sie für eine ideale Lösung, um das Radfahren sicherer und dadurch attraktiver zu machen. David Grünewald vom Radentscheid Darmstadt argumentiert: „Durch die Einrichtung von temporären Radwegen wird nicht nur das Infektionsrisiko mit Covid-19 verringert, weil der Abstand zwischen Fuß- und Radverkehr eingehalten werden kann, sondern es werden auch Unfälle vermieden. Das Gesundheitssystem wird so auf doppelte Weise entlastet.“ Zudem werde der Nahverkehr durch mehr Radfahrer entlastet – und bleibt so sicherer für diejenigen, die (etwa in systemrelevanten Berufen) auf ihn angewiesen sind, gibt Silas Bug von Fridays for Future zu bedenken.

Über Nacht 50 Kilometer neue Radwege

Zum Vergleich: In Paris entstanden aus genau diesen Gründen quasi über Nacht 50 Kilometer neue Pop-up-Bike-Lanes. Ausgerechnet in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotà, die nicht gerade fürs Radfahren bekannt ist, wurden kurzfristig 117 Kilometer neue Radverkehrsführung im Hauptstraßennetz geschaffen. Brüssel, London, sogar New York und Mexico City haben reagiert, auch Hamburg, Berlin und München zogen inzwischen nach. Darmstadt tat sich sehr lange sehr schwer.

Aber warum eigentlich? Juristische Hürden gibt es keine: Die bestehende Rechtslage der Straßenverkehrsordnung ermöglicht die Anordnung neuer Radverkehrsanlagen problemlos, das Land Berlin veröffentlichte einen bundesweit anwendbaren Leitfaden, der auch dem Mobilitätsamt der Stadt Darmstadt vorliegt und es ihr ermöglichen würde, rechtssicher zu arbeiten. Und effizient. Aber Darmstadt wartete. Sprach von einer „charmanten Idee“, doch statt kurzfristigem Aktionismus, der Radfahrer verunsichern könne, setze man lieber auf dauerhafte Lösungen. Dabei wurde erst im vergangenen Sommer in der Stadtverordnetenversammlung beschlossen, moderne Radwege an allen (!) Hauptstraßen der Stadt zu bauen.

Unkompliziert statt abwartend

Dass diese nicht von heute auf morgen entstehen können und alles seine Zeit braucht, scheint plausibel. Diese Denke haben wir als deutsche Bürger*innen nahezu verinnerlicht – trotzdem hat es der Radentscheid Darmstadt in einem starken Bündnis mit anderen engagierten Gruppen (ADFC, Fuss e. V., VCD, BUND, F4F, Transition Town und Klimaentscheid) schon zweimal geschafft, zu beweisen, wie unkompliziert es gehen kann: Bereits im April wurde für eine Stunde ein Teil des Cityrings zum temporären Radweg, Ende Mai kurzfristig die dringend notwendige Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Innenstadt auf einem Abschnitt der Rheinstraße geschaffen – als Pop-up-Radweg, eine Stunde lang. Die Bilder von beiden Aktionen sind überzeugend. „Mit unserer Aktion wollten wir darauf aufmerksam machen, dass es dringend eine grundlegende Umverteilung der Flächen braucht – und wie schnell sich das umsetzen lässt, wenn man nur will“, so Klaus Görgen vom ADFC.

Konkret schlagen die Aktivist*innen in Darmstadt vor, dass ab sofort und temporär je ein rechter Fahrstreifen des Cityrings (ab der Kirchstraße entlang der Holzstraße, des Schlossgrabens, vorbei am Karolinen- und Friedensplatz bis hin zum Mathildenplatz), der Kasinostraße, der Frankfurter Straße (ab der Kasinostraße Richtung Norden), der Rheinstraße (ab der Neckarstraße Richtung Westen), der Hindenburgstraße und der Straße Am Alten Bahnhof in einen Radfahrstreifen umgewandelt werden.

Neue Radspur in der Landgraf-Georg-Straße

Eine ähnliche Anpassung wurde Anfang Juni in einer Magistratssitzung für die Radverkehrsführung in der Landgraf-Georg-Straße zwischen Holzstraße und Teichhausstraße (stadtauswärts) beschlossen. Hier soll die komplette rechte Fahrspur in eine Fahrradspur umgewandelt werden, der Gehweg steht dann komplett den Fußgängern zur Verfügung. „Mit der Realisierung dieser Maßnahme können die Bedingungen für den Fuß- und Radverkehr sowie die Aufenthaltsqualität im dortigen Straßenraum deutlich verbessert werden. Da nur mit Markierungen und kleineren Einbauten gearbeitet wird, kann die Maßnahme zügig umgesetzt werden“, so Oberbürgermeister Jochen Partsch. Wesentlich länger wird die Umsetzung der ebenfalls beschlossenen Umgestaltung der Nieder-Ramstädter Straße zwischen Lichtwiesenweg und Böllenfalltorweg dauern – auch hier ist das Hauptziel die Schaffung einer durchgehenden, verkehrssicheren Radwegeverbindung, Baubeginn wird allerdings erst im Herbst 2021 sein.

Auch die aktuellen Pläne, Darmstadt zur „Modellstadt für Tempo 30“ zu machen, weisen schon einmal in die richtige Richtung. Jochen Partsch spricht davon, „die Verhältnisse umkehren“ zu wollen. Demnach würde innerorts Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit gelten, 40 oder 50 gäbe es „nur dort, wo es nötig ist“. Die Hoffnung ist, dass es durch solche Beschränkungen nicht nur weniger Autoverkehr – und Lärm und Abgase – in der Stadt gibt, sondern dass auch Fuß- und Radverkehr gestärkt werden sowie der Verkehr sicherer und flüssiger läuft.

Hoffnung in der „Modellstadt für Tempo 30“

David Grünewald vom Radentscheid Darmstadt verweist diesbezüglich auf eine internationale Studie, nach der bei Tempo 30 mehr Autos flüssig vorankommen als bei höherer Geschwindigkeit: „Tempo 30 hat eigentlich nur positive Auswirkungen, und zwar auf alle Verkehrsteilnehmer“, schließt Grünewald daraus. Sicher ist: Bremswege werden bei geringerer Geschwindigkeit auf jeden Fall kürzer. Doch sollte es nicht erste Maxime sein, Situationen, in denen Ad-hoc-Bremsmanöver überhaupt nötig sind, zu eliminieren? Mehr Platz für Radfahrer zu schaffen, damit nicht nur das Autofahren durch Einschränkungen unattraktiver, sondern das Radfahren durch neue Räume attraktiver wird?

Klar ist, dass die Pop-up-Radwege keine Dauerlösung darstellen sollen und wollen. Ein langfristiges Konzept muss her, dem wird niemand widersprechen wollen. Da sind die 244 Millionen Euro, die das Land bis 2024 für Verbesserungen im Fuß- und Radverkehr in Hessen bereitstellen will (davon 176,5 Millionen Euro Landesmittel für Nahmobilität in den Kommunen, Radschnellverbindungen und Radwege an Landesstraßen sowie 67,5 Millionen Euro Bundesmittel für Radwege an Bundesstraßen), natürlich eine schöne Sache. Auch, dass in der Landesbehörde Hessen Mobil nun extra eine 18-köpfige Task Force zum Thema Radverkehr gegründet wurde und dafür sogar acht neue Stellen geschaffen worden sind, ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Aber der entscheidende Sprung kam erst diesen Sommer. Nachdem OB Partsch Anfang Juni zögerlich hatte verlauten lassen, dass man die Einrichtung temporärer Radwege an mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen in Darmstadt nun doch „unter Umständen neu bewerten“ werde, wurde die Pressestelle zwei Wochen später konkreter – und zwar im besten Sinne: Statt von Pop-up-Radwegen spricht man lieber von „Verkehrsversuchen“. Weil diese als Vorbereitung für die dauerhafte Umgestaltung des Straßenraums dienen und auch über die Pandemie hinaus bestehen bleiben sollen. Kein Strohfeuer also, wie es sich auch David Grünewald wünscht, sondern die Grundlage für andauernde Maßnahmen. Klingt ja ganz schön zukunftsgewandt!

Weist Esslingen den Weg?

Und tatsächlich: „Vor allem für jene, die aufgrund der allgemeinen Lockerungen in die Alltagsmobilität zurückkehren, können provisorische Radwege an neuralgischen Stellen im Stadtgebiet eine klare Botschaft sein, künftig vermehrt das Fahrrad zu nutzen“, hat auch die Pressestelle der Stadt verstanden. Durch proaktives Handeln würde es sich die Stadt auch leichter machen: Anfang Juni erreichte die Initiative „Esslingen aufs Rad“ ein wegweisendes Urteil, nachdem das Ordnungsamt bei als Demonstration angemeldeten Pop-up-Radwegen diese auf eigene Kosten durch Leitkegel sichern muss. David Grünewald beharrt nicht nur deshalb auf der Forderung nach temporären Plötzlich-Fahrradspuren: „Die Erfahrungen liefern die direkte Blaupause für die endgültige Planung“, argumentiert er.

Entsprechende Vorschläge und Vorplanungen wurden im Darmstädter Mobilitätsamt bereits erarbeitet. Noch ist alles als „ergebnisoffene Prüfung“ vorgesehen. Und dass die Maßnahmen langfristig angelegt sind, bedeutet in unserer Bürokratie natürlich auch wieder: Alle Entscheidungen müssen durch politische Gremien, bevor irgendwas beschlossen wird. Tatsächlich wurde aber angekündigt, dass die Maßnahmen im Falle eines Beschlusses noch vor der Sommerpause durch die Verwaltung umgesetzt werden.

Lasst uns das nutzen! Lasst uns zumindest an dieser Stelle beweisen, dass an dem Leitsatz „In der Krise eine Chance sehen“ etwas dran ist. Lasst uns nicht wieder an Bürokratie scheitern. Lasst uns Radeln in Darmstadt attraktiver, angenehmer und vor allem sicherer machen. Indem wir die „Verkehrsversuche“ nutzen – und mit dem Rad fahren.

 

Chronik: Was bisher geschah

Sommer 2018: Das Bürgerbegehren des Radentscheids Darmstadt wird von der Stadt für unzulässig erklärt. Seitdem: gemeinsame Verhandlungen über die Umsetzung der Ziele des Radentscheids dank des städtischen Sonderinvestitionsprogramms „4×4“. Vier Jahre lang 4 Millionen Euro pro Jahr für den Radverkehr, außerdem vier Vollzeitstellen für die Umsetzung der Planung.

Frühjahr 2019: erste „Protected Bike Lane“ Darmstadts auf der mittleren Rheinstraße: 2,30 Meter breit, mit Pollern und Sicherheitstrennstreifen.

Mai 2019: Sanierung der Radverkehrsanlage in der Heidelberger Straße zwischen Hermannstraße und Heinrichstraße: Breitere Radwege, Bordsteine und Sicherheitstrennstreifen machen das Radfahren hier sicherer. Auch in südlicher Richtung wurden die Radwege an der Heidelberger Straße zwischen Rüdesheimer Straße und Grenzweg saniert.

Juni 2019: Verhandlungen zwischen Radentscheid und Stadt münden in eine 23 Punkte umfassende „Radstrategie“ mit den Handlungsfeldern Strategie, Infrastruktur, Information und Kommunikation, Arbeitsstrukturen und Anreizförderung. Außerdem wird der erste Bauabschnitt des Radschnellwegs Darmstadt-Frankfurt für die Öffentlichkeit freigegeben.

Sommer 2019: Radfahrstreifen in der Teichhausstraße zwischen Soderstraße und Roßdörfer Platz wird auf 2,20 Meter verbreitert; Poller werden aufgestellt, um Falschparker zu verhindern.

September 2019: nicht unstrittige Einführung von Tempo 30 ganztags auf dem östlichen Cityring. Dort war eine (mit Rad) querende Fußgängerin tödlich verunglückt. Auch auf der Heinrichstraße (zwischen zwischen Heidelberger Straße und Nieder-Ramstädter Straße) gilt inzwischen: Tempo 30 ganztags.

Herbst 2019: Im Zuge der Brückenneubauten über die Rhein-Main-Bahn werden neue Radverkehrsanlagen an der Hilpertstraße, Holzhofallee und Stirnwegbrücke eingerichtet. Außerdem wurde der Radweg am Groß-Gerauer Weg saniert.

Anfang 2020: Neuer baulicher Radweg an der Heidelberger Straße zwischen Eschollbrücker Straße und Annastraße (südliche Fahrtrichtung). In der Bismarckstraße: breiterer Radfahrstreifen, der durch Sperrpfosten vor Falschparkern geschützt ist.

Sommer 2020: Zweiter Teilabschnitt des Radschnellwegs Frankfurt-Darmstadt von Erzhausen nach Wixhausen wird eingeweiht. In Planung befinden sich auch Erweiterungen des Radschnellwegs in den Süden der Stadt, von Darmstadt nach Roßdorf sowie die Verbindung zwischen Seeheim und Eberstadt.

In den nächsten Monaten sollen neben den Maßnahmen in der Landgraf-Georg-Straße und der Nieder-Ramstädter Straße auch die Radwege entlang der Kranichsteiner Straße und der Fasaneriemauer ausgebaut werden, eine Brücke über die Rheinstraße ins Telekomviertel ist im Bau, die Heinrichstraße erhält eine Radverkehrsanlage und auch auf der Zeughausstraße/Bleichstraße entsteht ein durch Poller geschützter Radfahrstreifen.