Großstädte sind kulturelle Orte, die aber auch Beschränkungen mit sich bringen. So wissen alle Musiker:innen, dass jedes Instrument lauter als eine Ukulele in Mietwohnverhältnissen einfach nicht gut ankommt. Musik zu machen, ist aber wichtig – für das eigene Seelenheil und das soziale Gefüge. Gut und richtig also, dass es auch in Städten Orte gibt, an denen musikalische Menschen sich austoben können. Wer nicht gerade einen Proberaum mietet – und das ist ja bekanntlich ein ganz eigenes Drama – kann das in Darmstadt bei diversen Jamsessions tun. Diese offenen Bühnen haben viele Vorteile: Sie sind Orte des Kennenlernens, der Leidenschaft, Entspannung und Entfaltung.
Kulturkneipe Sumpf
So sieht das auch Wolfgang Haselberger, der in der Kulturkneipe Sumpf die Reihe „Eisprung – die coverfreie Akustikjamsession“ betreut. Hier treffen sich alle zwei Wochen donnerstags von 20.30 bis 1.30 Uhr Musiker:innen aller Instrumente zum gemeinsamen Spielen. Seit über 30 Jahren ist Wolfgang mit Jamsessions im Allgemeinen beschäftigt, suchte selbst aber etwas Ruhigeres: „Eine Freundin hat mir dann den Sumpf empfohlen“, erzählt er, „hier fanden sie mein Akustik-Konzept gut. Und jetzt läuft es seit 20 Jahren!“ Für Wolfgang gibt es zwei Regeln: keine Cover und keine festen Bands auf der offenen Bühne. Hier sollen sich einfach Leute treffen, Jung und Alt, Profis und Anfänger:innen. Es soll leichte Musik entstehen, die den Leuten im Kopf bleibt. Wer keine eigenen Instrumente hat, kann sich hier an einem E-Bass, zwei Western-Gitarren (mit Verstärker), einem Korb mit Rasseln, Handinstrumenten und zwei Mikrofonen bedienen.
Traditionell spielt Wolfgang Haselberger jede Session selbst an. Er eröffnet den Abend mit: „Hallo, Ihr Versumpften – und alle, die es werden wollen“, woraufhin ihm ein kollektives „Whoooo“ aus der Masse antwortet. Jede Session hat ihre eigene Magie, keine:r weiß, wie sich die Musik entwickelt – nicht mal Wolfgang, der immerhin schon seit 45 Jahren als Musiker aktiv ist. Er erinnert sich an eine Session im Winter 2008, bei der eine befreundetete Bauchtänzerin ihre Freunde aus Indien eingeladen hatte, „das war eine fette indische Session, da hab‘ ich hier nur gesessen und gestaunt. Das war wie Urlaub für mich.“
Seine Liebe zur freien musikalischen Entfaltung hat sich in die Substanz der Session eingebettet. So empfinden es auch die Gäste. Marleni ist schon zum dritten Mal hier, und kann die Location allen nur empfehlen. Obwohl sie ein Instrument dabei hat, sitzt sie noch entspannt mit zwei Freundinnen an der Bar. „Wenn ich einmal oben bin, gehe ich so schnell nicht mehr runter“, lacht sie und beschreibt das Konzept ziemlich passend: „Es ist Kultur, es ist inklusiv, es ist gut für die Psyche.“
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Nine’s
Wer an dem einen Donnerstag nicht kann, muss nicht enttäuscht sein. Denn passenderweise findet eine weitere Session immer im Wechsel mit dem „Eisprung“ statt: Nadine Rambo, die seit über einem Jahr das Nine’s (im früheren Uppercut) leitet, bietet ihre gemütliche Bar im Johannesviertel alle zwei Wochen donnerstags von 20.30 bis 1 Uhr allen Musiker:innen als Bühne an. Das Konzept von „Rexy’s Jam“ ist ein zum Wohnzimmer erklärter Raum, in dem sich unter dem Motto „sip and sound“ hier jede:r einfach frei fühlen soll, Musik zu machen und zu genießen. Vor Ort gibt es einen Bass, eine Gitarre und ein Saxofon, außerdem Bongos und ein Tamburin. Betreiberin Nadine spielt Saxofon und war auch schon an Bandprojekten beteiligt. Für sie war klar: Wenn sie eine Bar eröffnet, muss es dort einfach Jamsessions geben. Und das so gemütlich und entspannt wie möglich. „Nine ist mein Spitzname. Und so heißt auch meine Bar. Denn hier sind alle meine Familie. Das bestimmt die Atmosphäre. Based on love.“ Tatsächlich scheint sie alle Gäste beim Namen zu kennen, und obwohl der kleine Raum aus allen Nähten platzt, kommt sie immer wieder hinter der Bar hervor, mischt sich unter die Musiker:innen, singt und tanzt mit.
Im Gegensatz zum Sumpf wirkt das Dargebotene hier ein bisschen professioneller, aber auch etwas weniger zugänglich. Gleich zu Beginn finden sich eine Querflöte, ein Bass und ein Keyboard zusammen und klingen wie der Soundcheck eines Wohnzimmerkonzerts. Die kleine Bühne, handmade aus Bierkästen, erlaubt auch nur einige Musiker:innen im Fokus. Langsam gesellen sich rundherum andere dazu, die meisten allerdings schauen auf die Bühne und genießen, statt selbst zu spielen. Auch Mo muss sich ein wenig durch die Menge kämpfen. Mit einer Gitarre auf dem Rücken begrüßt er alle per Handschlag und steigt direkt ein. Er wohnt nur ein paar Häuser weiter und ist fast zu jeder Session am Start. „Ich bin sehr gerne hier“, sagt er und schaut während des Gesprächs immer wieder sehnsüchtig zur Bühne, „hier ist es ziemlich koordiniert und zwischen den Musiker:innen gibt es gute Kommunikation“.
Aus dem Keyboard klackern schon bald fertige Beats, die Jammenden unterhalten sich immer wieder über Stil- und Tonfragen. Als sich letztlich sieben Musiker:innen auf die Bühne quetschen, wirkt es ein bisschen wie eine öffentliche Bandprobe. Dazu trägt auch der Bildschirm bei, auf dem das Bühnengeschehen übertragen wird. So können auch die Menschen an der Bar, von der aus das musikalische Treiben nicht zu sehen ist, die Session bestmöglich mitverfolgen.
Schlosskeller
Ein etwas anderes Open-Stage-Konzept läuft im Schlosskeller. Der „Playhouse Jam“ ist ein gut orchestriertes musikalisches Experiment, das alle zwei bis drei Monate stattfindet. Veranstaltet wird es von André Alexander Kiefer, besser bekannt als Darmstädter Singer-Songwriter/Rapper Diffarent MC. Seitdem er die Moderation der Jamsession übernommen hat, gibt es hier strenge Regeln: „Jams verleiten gern dazu, dass ganz schnell zehn Leute auf der Bühne stehen und 15 Minuten lange ,Songs‘ schrammeln. Manchen Sänger:innen oder Solist:innen fehlt dann der Raum, sich auch mal auszutoben.“ Dem wirkt er durch klare Strukturen entgegen, zum Beispiel mit der Anweisung „Alle Bläser auf die Bühne, D-Moll“ oder durch gezieltes Aussuchen einzelner Musiker:innen. Ihnen gehört dann für drei Songs (oder maximal fünf Minuten) die Bühne, dort können sie eigene Kreationen, aber auch Cover zum Besten geben. Nach drei Songs (oder maximal fünf Minuten) werden alle außer der Hausband, die den Abend mit einem kleinen Konzert eröffnet, wieder von der Bühne gebeten und der Spaß beginnt von Neuem. „So passieren dann Momente, die ich auf anderen Jams selten sehe – wie, dass jemand mit einem Akkordeon allein auf die Bühne geht und Traditionals aus fernen Ländern singt“, erklärt „Diff“ und beschreibt damit gut, warum genau diese Session auch ein Publikumsliebling ist. Während andere Jams für Musiker:innen endlosen Raum bieten, gehen die reinen Zuschauer:innen bisweilen im kreativen Strom unter. Wem es vor allem auf die Musik ankommt, der kann sich im „Playhouse“ einen ganzen Abend lang bespaßen lassen – ohne ein einziges Mal selbst zu spielen.
Für alle, die spielen wollen, gibt es einen Grundstock an Schlagzeug, Gitarre und Bass. „Das war mal mehr“, sagt Diff, und startet an dieser Stelle einen Aufruf: „Wir suchen ganz dringend Menschen, die gerne ein Keyboard, Synthesizer oder was auch immer zur Verfügung stellen möchten.“ Wer also noch das ein oder andere Instrument einfach herumstehen hat, melde sich bitte, am besten einfach über Instagram oder per E-Mail.
Nach circa zwei Stunden Programm (mit Pausen für reines musikalisches Austoben) geben sich Hausband und Moderator geschlagen und es übernimmt letztlich der freie Jam-Gedanke jede „Playhouse“-Session. Diff erinnert sich an einen besonderen Abend, an dem der freiheitliche Gedanke zu einer kleinen Revolution ausgeufert ist: „Da wurde die Bühne entgegen meiner Vorgabe von einem Haufen Musiker:innen gestürmt. Da habe ich mich lachend ergeben und die Anarchie ausgerufen!“
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Gewölbekeller des Achteckigen Hauses
Ein Treffpunkt für musikalische Freiheit ist auch der Jazzclub Darmstadt in der Mauerstraße mitten im Martinsviertel. Am zweiten (manchmal dritten) Donnerstag des Monats findet im muckeligen Gewölbekeller des Achteckigen Hauses die „Jam Session mit Johnny’s Jazz Collection“ von 20 bis 22.30 Uhr statt. Ähnlich wie im Schlosskeller macht eine Band als Quartett den Auftakt, danach gehört die Bühne allen, die sich vor allem in Jazz (aber auch Swing, Bebop, Funk, Latin oder Blues) ausprobieren wollen.
Neben dieser klassischen Jamsession läuft zweimal jährlich ein spezifisches stilistisches Angebot: Die „FunkyLectro Session“ bringt elektronische Grooves ins Spiel – auch hier ohne Standards oder Vorgaben. Vor Ort stehen Piano, Drums und Amps bereit, Blasinstrumente dürfen sehr gerne mitgebracht werden.
Downtown 20
Die jüngste unter den Darmstädter Jamsessions ist einfach passiert. Das Downtown 20, versteckt gelegen in der innerstädtischen Helia-Passage (passenderweise im ehemaligen Kult-Plattenladen „Uli’s Musicland“), lädt seit letzten Sommer jeden Montag ab 19 Uhr Musiker:innen und Musikliebhabende ein, um gemeinsam zu improvisieren. Die Idee? Nichts Geplantes, anything goes. Kevin Nguyen, Inhaber und selbst Musiker, startete das Ganze mit Kolleg:innen.
Nachdem sie öfter einfach zusammen in der Billard- und Cocktailbar gejammt haben, wurde der Raum schließlich für die Allgemeinheit geöffnet. Hier kann jede:r sich an Klavier, Ukulele, Gitarren und kleinen Handinstrumenten ausprobieren. Einmal im Monat wird’s noch größer: Während im Obergeschoss die Jamsession tobt, legt DJ Flo Jungheim im Untergeschoss geschmackvolle Tunes auf. Außerdem cool: An diesen Abenden gibt’s Gratis-Billard für alle.
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Von der Rosenhöhe bis zum Staatstheater
Wer sich noch weiter musikalisch ausprobieren möchte, für die und den gibt es auch Jam-Angebote im Staatstheater (meist am Ende des Monats), in der Stadtkirche (im Rahmen der „Live!Jazz“-Reihe), im Jazzinstitut in Bessungen (nach Ankündigung auf der Website), im Ireland Pub im Martinsviertel (immer donnerstags) – und der spezielle Synthie-Jam „Modular Madness“ im Schlosskeller (etwa alle drei Monate).
Einige Darmstädter Jammende sind in einer – eher insidermäßigen – Telegram-Gruppe vernetzt und planen darüber auch mal eine spontane Session im Park, erzählt Caro Przybyla. Sie hat einmal den „Playhouse“-Jam moderiert und ist auf fast jeder Session zu finden. „Musik ist eines der wichtigsten heilenden Dinge, die ich im Leben brauche,” erklärt sie. Caro ist auch im Sumpf, als für diesen Artikel recherchiert wird. Schon zu Beginn singt sie: „Danke für die Musik, die kann Dir alles geben … segnen …“ Wenn das mal nicht den Spirit der Darmstädter Jam-Szene perfekt zusammenfasst.