Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

Er weiß wie kein anderer, wie es ist, aus der Not eine Tugend zu machen. Dank seines Wirkens und seiner Initiative wurden Kunst und Kultur in Darmstadt auch während der Corona-Pandemie lebendig gehalten. Mit seinen zahlreichen Theaterprojekten schafft Kai Schuber-Seel nicht nur Kultur, sondern auch Inklusion und Gleichberechtigung in der Gesellschaft. Weil er daran geglaubt, dass Theater für alle da ist. Wir haben den 40 Jahre alten Sozial- und Theaterpädagogen über seine Philosophie, Einstellungen und Herausforderungen in seinem Beruf sowie sein Herzensprojekt „Darmstadt_Speakers“ gefragt. Mit seinen aufrichtigen Antworten hat Kai uns total davon überzeugt, dass man mit Kunst Gutes bewirken kann.

 

Kai, Du bist ja Theaterpädagoge, Dozent, Autor, Moderator, letztendlich Vater und Mann … Wie bringst Du das alles und vieles mehr unter einen Hut?

Also ich würde mal so sagen: Ich glaube, dass ich sehr demütig bin. Auch als Dozent an der Evangelischen Hochschule habe ich diese Einstellung. Ich habe dort Soziale Arbeit studiert und möchte einfach gerne mein Wissen – auch meine Biografie, dass man erst Soziale Arbeit studiert und dann doch in die Kunst geht, dass es funktionieren kann – an die Studierenden weitergeben. Ich habe einen Folder mit selbst geschriebenen Kindertheaterstücken veröffentlicht, bin aber auch da bescheiden, ich bin kein Autor in dem Sinne. Ich bin jemand, der gerne ausprobiert und der gerne kennenlernt und auch von anderen lernt. Trotzdem ist es – um zu Deiner Frage zurückzukommen – eine unglaubliche Achterbahnfahrt. Ganz ehrlich, es ist nicht so, dass ich das aus dem Ärmel schüttele. Ich bin ein Mensch, der, wenn er Projekte macht, von Öffentlichkeitsarbeit bis zum Schreiben des Stückes teilweise bis zum Inszenieren wirklich vieles alleine macht – beziehungsweise manchmal im Tandem oder im Team. Aber ich komme da teilweise körperlich und geistig an meine Grenzen. Aber auch da stehe ich dazu und gehe professionell damit um. Das ist, glaube ich, auch wichtig: Wenn ich merke, ich brauch‘ grad Unterstützung oder muss das einfach auch transparent machen, dass es gerade zu viel ist, dann mache ich das.

 

Zu Deiner Philosophie „Theater für alle und mit allen“: Wie ist das Konzept umsetzbar? Und wie ist es möglich, gerade in diesen unruhigen Zeiten zum Beispiel auch Ausländer:innen, Geflüchtete ins kulturelle Leben zu integrieren?

Meine Einstellung ist: Ich mache Theater mit allen. Und für alle. Aber auch da mache ich ganz klar transparent, wenn ich Unterstützung brauche. Ich arbeite inklusiv vom Gedanken, von meiner Haltung her. Inklusion bedeutet für mich aber nicht, nur Menschen mit Beeinträchtigung mitzunehmen, sondern wirklich alle. Deswegen noch mal zu dem Thema mit den geflüchteten Menschen, jetzt grade aus der Ukraine: Da bin ich einfach auch abhängig von der Netzwerkarbeit, um Kontakte zu knüpfen. Das Schöne am Theater ist: Theater funktioniert auch nonverbal, das heißt: Du brauchst nicht unbedingt die Sprache oder musst nicht unbedingt auf der Bühne alles verstehen. Wenn ich mit den sozialpädagogischen Gruppen arbeite – ob mit „Joblingen“ oder mit einer Gruppe aus Eberstadt-Süd – da lasse ich die Leute gerne sogar die Sprachen sprechen, die sie beherrschen, weil ich das schön finde – einfach vom Klang, und weil sie ja trotzdem mit den Emotionen, mit ihrem Ausdruck ganz viel rüberbringen, da braucht es für nicht unbedingt die deutsche Sprache.

Foto: Manfred Rademacher

 

Du hast das Projekt „Darmstadt_Speakers“ inmitten der pandemischen Lage auf die Beine gestellt. Wie bist Du auf die Idee gekommen und ist das Projekt auch noch nach Corona aktuell?

Im März/April 2020 entstand die Grundidee. Da gab es dieses Arbeitsstipendium von der Hessischen Kulturstiftung von 2.000 Euro – und ich habe nur einen halben Job als Jugendkulturarbeiter bei der Kirche. Trotzdem dachte ich: „Das Geld ist da, um was Besonderes zu machen.“ Mit der Theatergruppe Theatermacher e. V., bei der ich noch aktiv war, habe ich so ein bisschen rumgesponnen – und kam dabei auf die Speakers-Corner-Idee, die man aus England kennt: Bei mir ging es aber nicht um Religion oder Politik, sondern um das Leben der Künstler:innen und die Möglichkeit des Auftritts … und dass diese dann aber auch kurz von ihren Erlebnissen und Gedanken in der Pandemie-Zeit erzählen. Dann waren wir an vier Orten an fünf Tagen im öffentlichen Raum und es haben 30 Künstler:innen und Gruppen mitgemacht – Laien und Profis. Wir sind auf die Plätze gegangen und du hast wirklich die Sehnsucht gespürt: sowohl bei den Künstler:innen, wieder was machen zu können, als auch beim Publikum. Teilweise kamen 200 Menschen, manchmal waren 70 bis 80 da. Der Eintritt war frei, man konnte spenden, das war aber keine Pflicht. Ich habe das Geld dann einfach unter meinem Team gestreut beziehungsweise es floss ins Projekt. Keiner von uns hat wirklich etwas verdient in dem Sinne, aber wir haben zusammengehalten für die Kunst. Und es kam so gut an, dass Leute zu mir gesagt haben: „Kai, Du musst das weitermachen!“ Von den 30 Künstler:innen und Gruppen hat nicht jede:r von der Pandemie gesprochen, aber „Speakers“ war dennoch der richtige Name: Denn auch wenn du Musik machst, wenn du tanzt, wenn du Akrobatik machst – du sprichst ja trotzdem zu den Menschen mit deiner Kunst. Im Mai und Juni 2021 gab es dann „die Show“ in den Stadtteilen und Quartieren, das war auch total spannend … es gab pandemiebedingt richtig scharfe Regeln, daher fand eine Veranstaltung auf dem Hofgut Oberfeld ohne Publikum statt. Dann waren wir im Rahmen der „KulturKiste“ in der Innenstadt dabei, beim Projekt „Ins Freie“ am Staatstheater, es gab Kooperationen mit Ubuntu und Theaterlabor INC., wir waren in Kneipen und Restaurants – und jetzt, ganz neu im Juni, öffnet die Kultur Türen für soziale Einrichtungen. „Darmstadt_Speakers“ ist aktuell und ich mache immer nur ein bis zwei Formate im Jahr, damit es spannend bleibt.

 

Elisabeth Lawonn unterstützt Dich bei dem Projekt. Auf welche Art und Weise?

Elisabeth und ich sind befreundet. Als ich „Darmstadt_Speakers“ startete, habe ich zu ihr gesagt: „Elisabeth, ich möchte gerne nachhaltig zu den Orten kommen, das heißt: mein Bühnenbild nicht mit dem Auto fahren, sondern ich möchte das gerne mit Deinem Lastenrad machen.“ Dann habe ich ihr über das Projekt, Arbeitsstipendium und die Künstler:innen erzählt und sie wurde immer hellhöriger. Sie meinte: „Kai, das Projekt ist sehr gut. Ich möchte mit meiner Stadtteilarbeit ,INKA_In Kranichstein aktiv‘ auch mal raus aus Kranichstein und INKA bekannt machen, auch Leute neu vernetzen nach Kranichstein. Kann ich bitte bei diesem Projekt einfach voll dabei sein?“ Ich bin ihr mega, mega dankbar, dass sie dabei ist. Ich mache schon immer noch die Hauptsachen – organisiere die Künstler:innen und dieses ganze Drumherum, das gemacht werden muss mit der Stadt, Finanzen et cetera, wobei sie immer draufguckt und mit mir alles reflektiert. Ich bin zwar federführend, aber bei allem, das ich an Elisabeth abgebe, kann ich mich hundertprozentig darauf verlassen: Das läuft. Es ist total angenehm für mich, mich auch mal zurückzulehnen. Ich glaube, sie profitiert auch vom Projekt für INKA, weil es natürlich auch INKA bekannter macht. Deswegen ist es eine Win-win-Situation.

 

Was verdienen die Künstler:innen an dem Projekt?

Sie kriegen alle nicht die Welt an Geld, sie bekommen eine Aufwandsentschädigung. Jedes Projekt wird anders finanziert, mein aktuelles Format im Juni von der Sparkasse Darmstadt. Ich streue auch diese Einnahmen sehr transparent. Ein solches Projekt behält aber immer den Charakter von Kleinkunst. Das ist meiner Meinung nach auch gut so, weil es sonst zu kommerziell wird. Natürlich kriegen die Laiendarsteller:innen ein bisschen weniger als die Profis, die Differenz soll aber nicht zu groß sein, ich will da so gut es geht eine gerechte Verteilung haben.

 

Wo beginnt für Dich die Unterscheidung zwischen Profis und Laien?

Für mich gibt es da eigentlich gar keinen großen Unterschied. Elementar ist, dass die Menschen, die Profis sind, davon leben. Aber ich finde, jeder Mensch, der Lust auf Kunst, Kultur hat, soll das machen, weil es erweitert nur unseren Kulturhorizont. Und ich hatte schon ganz wunderbare Laienkünstler:innen dabei, bei denen ich einfach nur so [… öffnet den Mund … ] da stand und total fasziniert war. Natürlich hatte ich schon Leute dabei, bei denen ich gesehen habe, dass jemand im Publikum auf die Uhr geguckt hat. Aber das Risiko gehe ich ein. Die Künstler:innen müssen mir kein Bewerbungsmaterial vorab schicken oder so. Ich kriege das durchs Hörensagen mit, manche schreiben mich auch direkt an.

 

Welche Insights waren für Dich die wichtigsten aus den bisherigen Projekten?

Ich finde, alle meine Projekte – es hört sich ein bisschen doof an – haben eine gewisse Art von Besonderheit. Ich mag Menschen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ein Produkt, ein Resultat ist mir völlig egal, aber der Prozess ist mir trotzdem immer wichtig. Ich habe aktuell mit „Darmstadt_Speakers“ ein ganz großes Glücksgefühl, dass ich so etwas entwickeln durfte – und auch, dass es gut ankommt und die Menschen glücklich macht, die da sind. Und dass ich Künstler:innnen eine Plattform bieten kann und eine Vernetzung. Aktuell läuft das Projekt „Barrierechecker:innen – im Kopf geht’s los“, das ich gemeinsam mit meiner Kollegin Nadja Soukup vom Theaterlabor INC. leite. Ich bin heute noch ganz beseelt, wenn ich an unsere Checks denke – und vor allem an unsere Parade „Gemeinsam für Gleichstellung“ im Mai mit mehr als 300 Teilnehmer:innen. Einige Checks folgen noch diesen Sommer. Besonders war auch das Projekt „Achterbahn“ zum Thema Borderline. Die Gruppe war bunt gemixt, es ging also nicht darum, dass man selbst betroffen sein muss. Aber ich habe ganz viele Interviews mit Psycholog:innen geführt, mit Betroffenen, Angehörigen – und ganz viel gelernt zu diesen Thema. Ich lerne immer viel in jedem Prozess. Alle Projekte sind besonders in dem, was sie sind oder wie sie sind. Es ist natürlich immer ein bisschen auch eine Sache, wie es mir emotional gerade geht oder was bei mir gerade emotional los ist.

 

Da kommen wir zu den Schwierigkeiten, Herausforderungen und Challenges, die Du in Deinem Beruf überwinden musst …

Ich brauche auf jeden Fall eine Work-Life-Balance, die mir nicht immer gelingt, das muss ich ganz klar sagen. Es gibt nicht ein Rezept zu sagen: „Das und das muss man machen, damit es einem immer gut geht, dass man immer alles gut hinkriegt.“ Das Leben gibt so viel – und wenn Du jemand bist, der das Leben aufsaugt und nicht nur in Deiner Blase bleibst, dann ist das nicht so einfach.

 

Und zum Schluss: Ist die ganze Welt ein Theater?

Auf jeden Fall. Wir spielen immer Rollen.

Dankeschön für das offene und ehrliche Gespräch – und weiterhin viel Erfolg, Kai!

 

Foto: Manfred Rademacher

„Darmstadt_Speakers“: Die Kultur öffnet Türen

Im Juni gibt es wieder eine neue Ausgabe und ein neues Format von „Darmstadt_Speakers“: „Es ist ein kulturelles Geschenk für soziale Einrichtungen und ihre Zielgruppen, die in der Pandemie noch weniger an Kultur teilnehmen konnten als viele andere“, erklärt Initiator Kai Schuber-Seel. Gleichzeitig ist die Kultur-Reihe ein Türöffner für Begegnungen von Darmstadts Bürger:innen und den Nutzer:innen dieser sozialen Einrichtungen: „Teestube Konkret“, Z14 Wohn- und Übernachtungsheim und der Kurt-Jahn-Anlage. Alle Veranstaltungen finden open air statt, der Eintritt ist frei.

 

Teestube Konkret (Alicenstraße 29) | Di, 21.06., 17 Uhr

Als Künstler:innen dabei: Blood Money (Tom-Waits-Coverband), The smiling Roses (bunte musikalische Mischung), Puppenbändiger Markus Wissel (Bauchredner), Mitarbeiter der Teestube Christian Faßnacht & Lukas Scholpp (Gesang und Gitarre)

 

Z14 Wohn- und Übernachtungsheim (Zweifalltorweg 14) | Mi, 22.06., 17 Uhr

Mit Andreas Ross (Lyrik/Poetry), Johanna Walter (Singer/Songwriterin), The Streetbreakers (Band).

 

Kurt-Jahn-Anlage (Friedberger Straße 15-19) | Do, 23.06., 17 Uhr

Mit Rasier- und Messer Scharf (inklusive Band), Yasmina (Gesang & Tanz), Ryder Salt (Country, Folk) und dem Chor der Kurt-Jahn-Anlage „HerzInklusiv“.