Bis zum Saisonstart Anfang August hatten die Lilien schon einen bunten Mix an Spielern verpflichtet. Mit Rückkehrer Patric Pfeiffer und Leihspieler Marco Richter stießen zwei Profis mit Erstligaerfahrung zum Team hinzu. Der nicht mehr ganz so junge Angreifer Serhat-Semih Güler will seine gute Torquote aus der 3. Liga eine Liga höher bestätigen, während die Verpflichtungen der beiden Japaner Hiroki Akiyama und Yosuke Furukawa für den SVD ziemlich exotisch wirken. Sie sind jedoch ein Beleg für die kreativen Wege, die Sportdirektor Paul Fernie auf dem Transfermarkt gehen will.
Wenn es nach Fernie ginge, würde das Transferfenster immer mit dem ersten Spieltag schließen. Genau das wollen die Bestimmungen der Fußballverbände aber nicht. Stattdessen dürfen bis einen Monat nach Saisonstart Transfers getätigt werden. Für jeden Zweitligisten bedeutet der August somit eine Phase, in der er keine Planungssicherheit hat. Viele Gerüchte und Last-Minute-Transfers sorgen deshalb für reichlich Unruhe. Etwas, das dem Engländer gar nicht schmeckt. Dennoch brennt Fernie für seine Aufgabe beim SVD, die er seit anderthalb Jahren ausübt und die es in dieser Form in seinem Heimatland gar nicht gibt. Dort übernimmt in aller Regel der Cheftrainer die Aufgaben des Sportdirektors in Personalunion. Wie Fernie jüngst im „Lilienkurier“ ausführte, kann das zum Problem werden: „Ein Trainer in England muss sich mit zu vielen Dingen beschäftigen. Dabei kommt das zu kurz, was er eigentlich beeinflussen sollte.“
Ausleihe und Rückkehr
Für den 38-Jährigen war es deshalb reizvoll, nach Erfahrungen als Nachwuchstrainer, Analyst und Chefscout die Rolle des Sportdirektors in Deutschland kennenzulernen und inzwischen auch auszuüben. Seine Erfahrung nach nunmehr drei Transferperioden bei den Lilien habe ihm gezeigt, dass der deutsche Markt nicht ganz einfach sei: „Denn auch in der 2. Bundesliga wird die Lücke zwischen der Spitzengruppe und uns immer größer. Das legen die Gespräche nahe, die ich in meinem Job führe“, ließ der Sportdirektor durchblicken. Weil die Lilien insbesondere im Werben um begehrte deutsche Spieler nicht immer mithalten können oder wollen, müsse Fernie mit seinem Scoutingteam – wie er selbst sagt – „kreativ sein und besser performen, als es unsere finanziellen Möglichkeiten hergeben.“ Das kann die Leihe eines erfahrenen Spielers bedeuten, der sein Potenzial zuletzt nicht so abrufen konnte. Wie etwa Marco Richter von Mainz 05. Richter verfügt zwar über Bundesligaerfahrung, kam bei Mainz aber nicht so recht ins Rollen und wusste auch bei seiner letztjährigen Ausleihe zum HSV nicht aufzutrumpfen. Erst so bekamen die Lilien die Chance, ihn für eine Saison leihweise zu engagieren. Die Erwartung: Bundesliganiveau für kalkulierbare Ausgaben. Ähnlich verhält es sich bei Patric Pfeiffer. Er kehrte nur wieder zurück ans Bölle, da er in Augsburg, Bern und Magdeburg keine größeren Begehrlichkeiten geweckt hatte. Die Erwartung: Aufblühen am vertrauten Standort.
Auslandsscouting
Was Fernie mit kreativen Lösungen noch meint, zeigt sich viel besser an drei weiteren Personalien. Leon Klassen stieß vom dänischen Erstligaabsteiger Lyngby BK nach Darmstadt. Bei den Dänen wusste er zu gefallen, wohingegen sein Karrierestart in Deutschland holprig verlaufen war, gefolgt von wenig erbaulichen Spielzeiten in Russland. Die Erwartung: Durchstarten in Deutschland im zweiten Anlauf. Mit Hiroki Akiyama und Yosuke Furukawa lotste Fernie zwei Japaner nach Darmstadt. Dass auch Spieler außerhalb Europas interessant sind, erlebte Fernie als Chefscout von RB New York. „Wir waren sehr viel in Südamerika unterwegs. Als europäischer Scout hat man normalerweise keine Chance, das vor Ort zu erleben.“ Folglich bleibt der Markt einer Vielzahl europäischer Klubs verschlossen. Genauso wie lange Zeit der in Fernost. Doch in den vergangenen Jahren hat sich das geändert. Inzwischen spielen vermehrt Japaner in Europa und mit Akiyama und Furukawa nun auch erstmals zwei bei den Lilien. Dabei hat Akiyama bislang nie außerhalb seines Heimatlandes gespielt, dort bei einem kleineren Klub jedoch durchaus spielerisch beeindruckt. Furukawa kann zumindest auf eine Spielzeit in Polen verweisen, kennt also den europäischen Fußball immerhin ein wenig. Die Erwartung an die beiden: Zweitliga-Qualität zu überschaubaren Kosten.
KI als Wegbereiter
Fernie und sein Team lassen sich bei der Suche nach realisierbaren Transfers im Übrigen von künstlicher Intelligenz unterstützen. Sie erlaubt es bei den Unmengen an gesammelten Daten, den Durchblick zu behalten, oder wie es Fernie ausdrückt, „eine bessere Informationsbasis für Entscheidungen zu haben“. Ein selbst entwickeltes Datenmodell kann für jede Position aufzeigen, welche Qualitäten der SVD benötigt, um seine Spielidee zu verwirklichen. Werden dazu datenbasiert die passenden Profis gefunden, sichtet das Scoutingteam der Lilien zunächst Videoaufnahmen der Spieler, bevor es sie vor Ort beobachtet. Die KI agiert somit als Wegbereiter, um zielgenau die passenden Spieler auf internationaler Basis zu finden, die obendrein finanzierbar sind. Auf die Möglichkeiten der Artificial Intelligence setzen die Lilien zudem bei der möglichst schnellen sportlichen Integration der Spieler. So übersetzt ein KI-Tool die Sitzungen und Analysen von Cheftrainer Florian Kohfeldt in die Muttersprache der ausländischen Profis. Und zwar inklusive der Stimmungen, die der Coach dabei vermittelt. So können die 98er darauf vertrauen, dass die Profis sehr viel schneller die Spielidee des SVD verinnerlichen und die an sie gerichteten Anforderungen umsetzen.
Bei der Integration sind alle gefordert
Wenn es allerdings darum geht, die Zugänge zu integrieren, nimmt Paul Fernie die Mitspieler in die Pflicht. Denn bei aller Kreativität und dem Einsatz von KI im Scouting: Wenn es darum geht, dass sich die nach Darmstadt geholten Spieler wohlfühlen, kommt es immer noch auf die zwischenmenschliche Komponente an. Die Neuen sollen sich willkommen und als Teil des Ganzen fühlen. Andernfalls könnte die ganze ausgeklügelte Suche umsonst gewesen sein. Und das will der ehrgeizige Sportdirektor der Lilien ganz bestimmt nicht.
Schnelles, zielstrebiges Umschaltspiel
So, 31.8., 13.30 Uhr: 1. FC Kaiserslautern – SV Darmstadt 98
Sa, 13.9., 13 Uhr: SV Darmstadt 98 – Eintracht Braunschweig
So, 21.9., 13.30 Uhr: Fortuna Düsseldorf – SV Darmstadt 98
Fr, 26.9., 18.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – Dynamo Dresden
Besser als wie „Cesto“: Rekord-Rekordtorschütze Werner Böhmann
In der vergangenen Folge unserer gern gelesenen Rubrik „Rischdisch (un)wischdisch“ haben wir über den Rekordtorschützen des SV Darmstadt 1898, Peter Cestonaro, berichtet. In 184 Pflichtspielen knipste „Cesto“ 91 Mal. Abgesehen davon, dass wir sowieso alle „Cestonaros Erben“ sind, wies uns P-Leser Udo Steinbeck darauf hin, dass es einen Lilien-Spieler gegeben hat, der noch treffsicherer war: Werner Böhmann, Mitglied der Meistermannschaft von 1949/50, die in die Oberliga Süd aufstieg. Böhmann erzielte in 261 Spielen für den SVD sage und schreibe 123 Treffer. Damit ist der am 24. August 2010 im Alter von 80 Jahren Verstorbene der treffsicherste Spieler in der Historie der Lilien – also quasi noch vor „Cesto“ der Rekord-Rekordtorschütze des SVD. Mit dieser Korrektur stimmt auch dieses „Rischdisch (un)wischdisch“ wieder. (ct)
Matthias und der Kickschuh
Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Zudem führt er seit einigen Jahren Interviews für den „Lilienkurier“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!







