Letztens adressierte ein Witzbold einen Brief an das „Kunst Archiv Darmstadt e.V. / Abfallverwertungsstelle“. Nicht selten wird den ehrenamtlichen Mitgliedern tatsächlich die Frage gestellt: Ist das Kunst oder kann das weg? Einige Male mussten sie die Kunst gar aus dem Müll retten. Doch das ist nur ein Teil dessen, was täglich in den Räumen des Archivs im Kennedyhaus geschieht – im Bestreben, die Kunst Darmstadts und der Region zu bewahren und zu dokumentieren.
Es begann mit einem Zettel im Katalog zur Ausstellung des Darmstädters Heinrich Zernin (1978, Saalbaugalerie): „Dies ist der Beginn des Künstlerarchivs“. Daraufhin traf sich regelmäßig ein kleiner Kreis Kunstinteressierter. Es wurden relevante „Zeitungsschnipsel“ vorgetragen und besprochen. Am 10. Oktober 1984 wurde der Verein als „Archiv Darmstädter Künstler“ eingetragen. Ziel der engagierten Personen war und ist die Dokumentation des vergangenen wie auch zeitgenössischen Kunstgeschehens in Darmstadt und der Region. „In der lokalen Kunstszene gibt es viele Namen, die man nicht im Internet findet“, sagt Claus K. Netuschil, Vorsitzender und Gründer des Kunst Archivs. Dort in den Ordnern findet man aber deren Fotos, Briefe, Zeitungsartikel oder gar deren Werke.
Das Kunst Archiv ist offen für junge Leute, frische Ideen – und größere Räume
Heute hat der Verein 500 Mitglieder. Der Eintritt jedes Einzelnen hat immer einen persönlichen Grund: Man kennt jemanden, war oder ist selber Künstler oder versucht, der Kunst an sich näher zu kommen. „Vor zwei Jahren trat eine Dame im Alter von 90 Jahren ein – das nenne ich zukunftsweisend“, lacht Netuschil.
Eine Mitgliedschaft lohnt sich. Halbjährlich gibt es ein neues Programm. Eine Kunst-Reise und ein Atelierbesuch bei einem Künstler der Gegenwart werden angeboten. Außerdem findet halbjährlich eine Ausstellung mit begleitenden Aktionen in den Räumlichkeiten des Archivs statt. Dazu erhält jedes Mitglied freien Eintritt in die Ausstellungen der Mathildenhöhe und der Kunsthalle.
Das Kunst Archiv hat eine Präsenzbibliothek mit über 4.000 Bänden, etwa 600 Ordnern mit den Archivalien von über 2.200 Künstlern, Schubladen voller Zeichnungen und Drucke sowie zwölf komplette Nachlässe Verstorbener – wie das 25 Kubikmeter Platz einnehmende Erbe von Helmut Lortz, dessen Grafiken jedem Heinerfest-Besucher vertraut sind, und der sich 1955 mit dem Bildhauer Wilhelm Loth den ersten Kunstpreis der Stadt teilte.
Darmstadt als Wiege des 20. Jahrhunderts?
Die Bücher, Ordner und Archivalien stehen der wissenschaftlichen Forschung und der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung. Und die darf interessiert sein, denn „Darmstadt war in jeder Epoche ein kleines Zentrum der Kunst“, sagt Netuschil. Nicht nur in den Tagen der fulminanten Ausstellung „Ein Dokument Deutscher Kunst“ der Künstlerkolonie im Jahr 1901, und nicht nur in der Epoche des Darmstädter Jugendstils, der auch eine Wurzel des Dessauer Bauhauses ist, denn die Suche nach der durch die Funktion geprägten Form wurde hier initiiert. Theodor Heuss soll sogar gesagt haben, dass das 20. Jahrhundert eigentlich in Darmstadt begann. Nicht zu Unrecht nannte sich Darmstadt bis 1997 „Stadt der Künste“ und strebt nun den Titel „UNESCO-Weltkulturerbe“ für die Mathildenhöhe an.
Das bedeutungsvolle Erbe der Stadt
„Wir sammeln das bedeutungsvolle Erbe der Stadt und übernehmen die Verantwortung für die Dokumente, die kunsthistorisch wichtig sind. Die Stadt muss Interesse haben, dass ein Archiv existiert, weil sie die Nachlässe nicht selber annehmen kann“, sagt Netuschil. So bringen viele Nachkommen Werke verstorbener Verwandter, die zu Lebzeiten den Pinsel schwangen. Wenn es auch nicht immer jeder virtuos tat, so gilt es für das Kunst Archiv mit Sorgfalt auszuwählen. Die angenommen Werke und Zeitzeugnisse werden von 15 ehrenamtlichen Mitarbeitern nach allen Regeln der Kunst archiviert. „Inzwischen fragen andere Städte nach dem Prozedere: Wie werden Bilder gereinigt, Passepartouts geschnitten, bröcklige Zeitungsausschnitte und Briefe gerettet?“, freut sich Netuschil.
Doch es fehlen junge Leute mit Interesse am Kunstgeschehen und neuen, frischen Ideen. „Hier lässt sich eine Menge verwirklichen“, sagt Netuschil, „hier ist nichts rückwärtsgewandt.“ Zu erkennen ist das an den halbjährlichen Ausstellungen, die im aktuellen Fall sogar den Außenraum verändern. Zur Ausstellung des Bildhauers Georg von Kovats wird in die Begrünung des Kennedyplatzes die 2,20 Meter hohe Skulptur „Engel von Troyes“ drei Jahre lang integriert.
1998 hat das Kunst Archiv die städtischen Räume im Kennedyhaus bezogen. Der Platz reicht jedoch nicht aus. Wichtige Nachlässe sind aus- und anderswo eingelagert – das bedeutet: nicht archiviert und nicht zugänglich. Das Erbe des Darmstädter Bildhauers Benedikt von König ist so ein Fall: Es liegt seit 100 Jahren in Süddeutschland in einem Depot. „Wäre es nicht schön, nach so langer Zeit dieses Werk wieder ans Licht zu bringen?!“, fragt Netuschil. Obwohl das gar keine Frage ist.