Martin Wick
Foto: Darmstädter Geschichtswerkstatt e. V.

Stolpersteine, Gedenktafeln und Mahnmale erinnern auch in Darmstadt an die Opfer der Nazi-Herrschaft. Doch diese Form der Erinnerung ist irgendwie abstrakt. Wer waren die Menschen, die in unserer Stadt verfolgt oder gar ermordet wurden? Welche Schicksale stecken hinter Namen und Daten? 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erzählt das P die Geschichten einiger dieser Darmstädter.

Folge 5: Martin „Scheckel“ Wick (1931-2003)

Die Diskriminierung der Sinti und Roma in Deutschland und ihre Verfolgungsgeschichte während der Nazi-Zeit ist nach wie vor ein wenig beachtetes Randthema. Als in diesem Jahr bei der Aufstiegsfeier der „Lilien“ Teile der Mannschaft und des Publikums den Gesang „Schuster, Du Zigeuner“ anstimmten, fand das im Siegestaumel auf dem Karolinenplatz niemand anstößig. Im Gegenteil: Viele Fans meinten, das sei doch nicht so gemeint und nicht so schlimm gewesen, man solle das nicht so hoch aufhängen. Der Verein äußerte sich nicht offiziell zu dem Vorfall. Erst nachdem sich Rinaldo Strauß vom hessischen Landesverband der deutschen Sinti und Roma an den Verein gewandt hatte, entschuldigte sich der SV 98 für den Gesang [der wohl einen Schmähruf von Fans des Karlsruher SC gegenüber dem ehemaligen KSC-Spieler und jetzigen „Lilien“-Trainer Dirk Schuster ironisieren sollte, Anm. d. Red.].

Dabei ist das Wort „Zigeuner“ eng mit der brutalen Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma in Deutschland verbunden, gerade auch hier in Darmstadt. Einer, der diese erlebt und überlebt hat, war Martin Wick mit Rufnamen „Scheckel“, der am 17. Juni 1931 in Ober-Rosbach in eine Sinto-Familie geboren wurde. Er lebte mit seinen Eltern, Schumacher Georg Wick und Marie Wick, sowie zehn Geschwistern ab 1934 in der „Roten Dragonerkaserne“ am Marienplatz.

1943 wurde Martin Wick seitens der Behörden der Schulbesuch in der Bessunger Knabenschule verboten. Im gleichen Jahr verhaftete man seinen Vater – obwohl er kein Sinto war – und deportierte ihn in das KZ Flossenbürg. Im März erfolgte die Deportation der Mehrheit der Darmstädter Sinti-Familien in das „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau, als Letzte folgten die Familien Wick und Mettbach am 10. Mai 1943.

Dort hat der junge Martin Schreckliches erlebt: „Wir haben nicht gleich gewusst, was Auschwitz bedeutet, aber wir haben dann nachts das Geschrei derer gehört, die vergast wurden. Des nachts durfte ja keiner den Block verlassen. Aber wir sind trotzdem raus, und haben gesehen, dass hinter dem Zaun die Krematorien standen und dort die Menschen ermordet wurden. Das sogenannte ‚Zigeunerlager‘ war direkt neben der Rampe, neben den Bahngleisen, wo die Menschen ankamen. Wir haben gesehen, wie die Waggons ankamen, wie die Menschen herausgeschlagen wurden, das haben wir alles gesehen … Oder wenn jemand in der Baracke gestorben ist, dann bist du morgens in den Waschraum gekommen, das war so ein gekachelter Raum, da lagen die Toten der Nacht, ausgemergelt … So ging es auch mit meinen Geschwistern, die wurden krank, bekamen Typhus, kamen in den Krankenbau … Ich habe sie nie wieder gesehen. Alle meine jüngeren Geschwister und zwei meiner älteren Geschwister starben dort. Die kleinsten Kinder hatten überhaupt keine Chance, Auschwitz zu überleben.“

Martin überlebte die Auflösung des „Zigeunerlagers“ im Juli 1944 durch die Nazis. Während fast alle Häftlinge vergast wurden, kam er ins KZ Ravensbrück, von wo aus er im März 1945 mit anderen Häftlingen nach Sachsenhausen verlegt und kurz darauf auf den Todesmarsch geschickt wurde. Martins Großmutter wurde zwei Stunden vor der Befreiung des KZ ermordet. „Wir haben so viele Dinge gesehen, von denen muss heute jeder sagen, das ist nicht menschenmöglich, das erträgt kein Mensch“, erinnerte er sich später.

Auf der Flucht vor der Einweisung in ein Waisenhaus gelangte der 14-jährige Martin nach monatelanger Irrfahrt nach Hamburg und blieb bis 1946 in einem Erholungsheim für ehemalige KZ-Häftlinge sowie bei einer Hamburger Familie. Sein Vater, der die Konzentrationslager Flossenbürg und Mauthausen überlebt hatte, holte ihn später zu sich nach Darmstadt, aber die meisten Mitglieder seiner Familie waren von den Deutschen ermordet worden: „Von allen Geschwistern sind nur drei wieder aus Auschwitz lebend zurückgekommen“, so Martin Wick.

Er begann eine dreijährige Lehre als Stuckateur, begleitete später aber seinen Vater und die Stiefmutter auf Reisen im Schaustellergeschäft. Die Familie Wick wohnte zunächst in ehemaligen Baracken für sowjetische Kriegsgefangene in der Michaelisstraße. 1954 kündigte die Stadt die Pacht und wies der Familie ein Grundstück im Sensfelder Weg zu. Nachdem auch die Pacht für dieses Grundstück entzogen und das Häuschen der Familie abgerissen wurde, zogen die Wicks in die Kirschenallee. In diesem notdürftig hergerichteten Wohngebiet wohnten inzwischen auch andere aus den Konzentrationslagern nach Darmstadt zurückgekehrte Sinti-Familien. Jahrzehntelang blieben diese Straßenzüge ein von der Stadt vernachlässigter sozialer Brennpunkt.

Nach seinem Berufsleben als Weißbinder und Stuckateur kümmerte sich Martin Wick als Hausmeister um die Wohnungen in der Kirschenallee und um das Gemeindezentrum. Am 8. September 2003 verstarb er nach schwerer Krankheit in Darmstadt und wurde auf dem Waldfriedhof beigesetzt.

www.darmstaedter-geschichtswerkstatt.de