Über Täterstrategien, die Perspektive der Betroffenen und Awareness – ein Gespräch mit Miriam Seel, Beraterin und Sozialrechtlerin bei Pro Familia Darmstadt.
Wenn ich selbst von sexueller Gewalt oder Belästigung betroffen bin, wie hilft mir da Pro Familia?
Pro Familia hilft erst mal, die Situation überhaupt einzusortieren. Vielen Betroffenen ist nicht so ganz klar, was das, was ihnen passiert ist, mit Täterstrategien oder mit strukturellen Begebenheiten zu tun hat. Aber auch bei der Einordnung ganz konkreter Symptome wie psychischen Folgen und der Vermittlung an Psychotherapeut:innen. Viele Betroffene leiden unter Schlafproblemen, spüren innere Unruhe und ihnen gelingt es gar nicht mehr, so richtig abzuschalten oder runterzukommen. Es ist gut, das Erlebte mit jemandem zu teilen, es kann ja auch wirklich eine Traumatisierung stattgefunden haben, die langfristige Folgen hat. Viele Betroffene kommen sogar erst nach einem halben Jahr oder Jahr, weil es vielleicht einen ähnlichen Vorfall gab, der sie daran erinnert, und dann die Symptome stärker werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist natürlich auch die juristische Einordnung.
Wenn ich mich entscheide, Anzeige zu erstatten: Welche Kosten kommen da auf mich zu?
Eine juristische Erstberatung ist immer kostenfrei möglich. In Darmstadt kann man sich an die Darmstädter Hilfe wenden, die Gutscheine für eine erste anwaltliche Beratung herausgibt. Wenn man einen Fall zur Anzeige bringt, muss man unter Umständen mit viel Gegenwehr rechnen, meistens von Täterseite. Bevor es überhaupt zum Prozess kommt, beurteilt die Staatsanwaltschaft die Beweislage und entscheidet, ob die Beweismittel für eine Anklage ausreichen. Und das kann auch unangenehm sein. Weil es Emotionen wieder hochbringen kann. Es fällt vielen Betroffenen schwer, die Wartezeit auszuhalten. Denn es kann ein bis zwei Jahre dauern, bis überhaupt ein Signal von der Staatsanwaltschaft kommt. Aber wichtig zu wissen: Im Falle einer sexuellen Nötigung oder einer Vergewaltigung würde der Staat die Kosten – selbst die für eine Anwältin oder einen Anwalt – übernehmen.
Sie hatten anfangs von Täterstrategien gesprochen, können Sie diese erläutern und wie man sie frühzeitig erkennen kann?
Gerade am Arbeitsplatz gibt es eine typische Strategie, mit der sich Täter langsam vortasten: Dass sie erst mal Jokes machen und gucken, wie jemand darauf reagiert – und dann werden die Jokes immer sexistischer. Und wenn man dann merkt, dass eine Person vielleicht unsicher ist und sich nicht klar abgrenzt, geht man einen Schritt weiter. Es handelt sich um einen schleichenden, manipulativen Prozess, den man lange für sich gar nicht so richtig einordnen kann. Täter wählen solch manipulative Strategien oft bewusst, damit Opfer denken, sie seien selbst schuld, weil sie keine klaren Grenzen gesetzt hätten.
Ich kenne das von mir selbst: Ich habe mir vorgenommen, immer was zu sagen bei sexistischen Kommentaren, aber oft in solchen Situationen bin ich so perplex und überrascht, dass mir nichts einfällt. Haben Sie Tipps, wie man auf eine angemessene Weise reagieren kann?
Man sollte sich keine Vorwürfe machen. Denn es ist auch Teil der Täterstrategie, dass man überrollt wird. Es macht überhaupt nichts, die Person drei Tage später noch mal darauf anzusprechen: „Das war nicht in Ordnung und ich will, dass das nie mehr vorkommt.“ Nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) gibt es für den Arbeitskontext ganz klare Regeln, hier kann viel stärker geahndet werden, als wenn jemandem Belästigung zum Beispiel im Freundeskreis passiert. Es ist gut, möglichst früh den Betriebsrat, den Arbeitgeber oder zumindest die nächsthöhere Ebene mit einzubeziehen. Betroffene sollten wissen: Sie können einfordern, am Arbeitsplatz ernst genommen zu werden. Es gibt außerdem eine bundesweite Anlaufstelle bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, die man immer kontaktieren kann. Zudem müssen Betriebe eigentlich eigene Beschwerdestellen eingerichtet haben, was aber nicht alle machen.
Lässt sich eine Tendenz beobachten, wo es öfter zu sexuellen Übergriffen kommt: im Arbeitskontext oder im Freundeskreis?
Zwei Drittel der Opfer und Täter kennen sich länger als 24 Stunden. Sexuelle Übergriffe kommen wirklich in allen Kontexten vor – zu Hause, am Arbeitsplatz, beim Feiern. Aus den Medien kennen wir Fälle von Groupies bei Konzerten, wo gezielte Grenzüberschreitungen genutzt werden, um jemanden zu manipulieren. Denn laut Definition meint sexualisierte Gewalt alle Handlungen gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Oft gibt es aber auch Zwischenbereiche und Grauzonen, die gar nicht so klar als Übergriffe zu benennen sind und erst im Nachhinein merkt man, dass bestimmte Situationen eine Grenzüberschreitung waren. Aber es gilt: Alles, bei dem ich nicht gesagt habe: „Ja, ich will“, ist ein Übergriff.
Wie sollte ich mich als Freundin einer betroffenen Person verhalten?
Was ich ganz wichtig finde, ist, dass man der betroffenen Person glaubt. Und sie fragt, was sie braucht. Es kann sein, dass eine Person sehr viel Nähe braucht und auch in den Arm genommen werden will. Es kann aber auch sein, dass die betroffene Person einfach nur möchte, dass sie jederzeit anrufen kann, wenn es ihr gerade schlecht geht. Man muss nicht wissen, wie man am besten reagiert, sondern man muss wissen, dass man einfach fragen darf. Und man darf auch sagen: „Ich bin gerade unsicher, wie soll ich mich verhalten?“ Generell sollte man sich mit eigenen Emotionen wie Wut oder Besorgnis eher zurücknehmen. Das würde das Opfer eher überfordern, denn das ist primär damit beschäftigt, mit den eigenen Emotionen umzugehen. Man kann sich als helfende Person auch selbst Beratung suchen – viele Eltern, Partner, Freund:innen, lassen sich von uns beraten, um besser zu verstehen, wie sie mit Betroffenen umgehen können, die sich vielleicht selber keine Hilfe holen.
Gibt es eigentlich auch eine Beratung für Täter und Täterinnen?
In Darmstadt gibt es zurzeit tatsächlich keine Beratungsstelle für Täter von sexualisierter Gewalt. Aber mein Kollege berät Täter von Partnerschaftsgewalt. Diese kann zwar auch sexualisierte Gewalt beinhalten, meistens handelt es sich aber um multiple Gewaltformen im Nahbereich, bei denen psychischer Druck, Kontrolle oder Stalking und zum Teil auch körperliche Gewalt eine Rolle spielen.
Und vielleicht noch mal zurück zu dem Freundeskreis-Beispiel: Wenn ich auch mit dem Täter befreundet bin, gibt es da gute Methoden, vorzugehen?
Oft sind Täter und Opfer im gleichen Freund:innenkreis. Dann ist es wichtig, sich der betroffenen Person gegenüber solidarisch zu verhalten. Für Betroffene ist es ein wichtiger Schutzmechanismus, sich erst mal klar vom Täter abzugrenzen. Wenn man beim Vorfall nicht dabei war, geht es nicht darum, alle Details zu kennen und sich eine Art „juristisches Urteil“ zu bilden. Als Freund:in muss ich nicht sagen, was wahr oder nicht wahr ist. Ich glaube der betroffenen Person und bin für sie da.
Es gibt ja auch in Darmstadt immer mehr Awareness-Konzepte [Awareness = Achtsamkeit, Bewusstmachen] für Partys, Gastronomie, im Fußballstadion. Worauf sollte dabei Ihrer Meinung nach geachtet werden?
Awareness-Konzepte – im Schulkontext und im Sportverein inzwischen Schutzkonzepte genannt – sind in allen Bereichen wichtig. Zum einen haben sie Signalwirkung: sowohl für potenzielle Täter als auch für Besuchende von Events. Um sich sicher zu fühlen und zu wissen, dass sexistisches Verhalten nicht geduldet wird. Awareness-Konzept bedeutet ja auch, dass Mitarbeitende geschult sind für das Thema. Und dass alle an einem Strang ziehen, dass alle den gleichen Stand haben und auch das gleiche Leitbild. Und Leuten, denen das nicht passt, die sollten dort nicht zum Team gehören. Die Gastronomie ist, finde ich, ein zusätzlich herausfordernder Bereich, weil es da eben auch noch diese Kellnerinnen-Klischees gibt. Da kommt es zum Teil auch zwischen Gästen und dem Personal zu Fällen von Belästigung. Deshalb ist es wichtig, dass auch ihnen das Awareness-Konzept nähergebracht wird, zum Beispiel über Poster oder Aufkleber.
Anlaufstellen und weitere Informationen für Betroffene, Freund:innen und Interessierte: profamilia.de
Auch Männer sind von sexualisierter Gewalt betroffen
In Hessen wurden kürzlich vier Beratungsstellen für männliche Betroffene von sexueller Belästigung eröffnet, eine davon leitet Lucas Jung bei Pro Familia in Darmstadt (Kontakt: Telefon 06151 4294222, E-Mail: darmstadt@haltepunkt.org). Das Angebot ist kostenfrei, vom Land Hessen finanziert – und dringend nötig. Denn etwa jede zehnte männliche Person erfährt laut Studien in ihrem Leben sexualisierte Gewalt. Auch bei Erlebnissen aus Kindheit und Jugend steht die Beratungsstelle allen ab 18 Jahren unterstützend zur Seite. (as)
Was sind Awareness-Teams?
In der heutigen Event- und Clubszene wird ein respektvolles Miteinander immer größer geschrieben. Hinweise wie „Hier werden keinerlei Formen von Diskriminierung, sexuellem Missbrauch, übergriffigem oder sexistischem Verhalten geduldet. Solltest Du Dich bedroht oder belästigt fühlen, dann wende dich an unser Awareness-Team, erkennbar an den gelben Westen“ werden von Betreiber:innen immer häufiger verbreitet, sei es in Form von Beiträgen auf sozialen Netzwerken oder auf Postern in Clubtoiletten. Insbesondere Frauen oder weiblich gelesene Personen können unbesorgt(er) ausgehen, wenn ihnen versichert wird, dass sie in einem Ernstfall eine Ansprechperson in unmittelbarer Nähe haben, die ihre Bedürfnisse ernst nimmt und in jedem Fall Hilfe leistet.
Awareness-Teams sind kein allzu neues Phänomen. Die Bewegung geht zurück bis in die 1980er-Jahre, in denen der Begriff „Awareness“ (übersetzt: Bewusstsein/Achtsamkeit) zunehmend in US-amerikanischer pädagogischer Literatur auftaucht, die sich mit Diskriminierung jeglicher Form auseinandersetzte. Obwohl Awareness bereits vor über vierzig Jahren eine Rolle spielte, wurde erst 2012 auf der Fusion [ausschweifendes Musikfestival in Lärz an der Müritz] die erste „Festival Awareness Crew“ in Deutschland gegründet. Wegbereiterin war die feministische Autorin und Aktivistin Ann Wiesental, die zwischen 2010 und 2017 mehrere bundesweite Vernetzungstreffen von Awareness-Gruppen organisierte und den Einsatz derartiger Teams immer weiter ausbreitete.
Das Konzept eines Awareness-Teams wird je nach Veranstaltung individuell geplant – auch in Darmstadt. (cg)
Mit Luisa im Club und „LILY“ am Bölle gegen Sexismus und Übergriffe
Es gibt bereits einige Initiativen in Darmstadt gegen sexuelle Belästigung:
Das Projekt „Luisa ist hier!“ wurde 2016 von der Frauenberatungsstelle Münster initiiert und hat sich seitdem in vielen deutschen Städten verbreitet. Im Januar 2020 haben Centralstation, 806qm, Bedroomdisco (Golden Leaves Festival), Weststadtcafé und der Schlosskeller das Konzept nach Darmstadt geholt. Das Prinzip ist einfach und effektiv: Frauen, die sich in einer unangenehmen oder bedrohlichen Situation befinden, können sich diskret an das Bar- oder Sicherheitspersonal wenden und nach „Luisa“ fragen. Diese codierte Frage signalisiert den Mitarbeitenden, dass die betroffene Person Hilfe benötigt. Die Mitarbeitenden sind speziell geschult, um in solchen Fällen schnell und angemessen zu reagieren. Sie bieten Unterstützung, indem sie die betroffene Person in einen sicheren Bereich begleiten, ein Taxi rufen oder gegebenenfalls die Polizei verständigen. Aktiv unterstützt und begleitet wird das Projekt von Pro Familia Darmstadt.
Auch junge Darmstädter Kulturmacher:innen wie das „lim.studio“-Kollektiv oder das Team des Contrast Festivals verfolgen eigene Awareness-Konzepte. Und einige Helfer:innen des diesjährigen Golden Leaves Festivals sowie des Trebur Open Airs haben gemeinsam eine Awareness-Schulung absolviert, um das Thema künftig stärker nach außen tragen zu können. Auch das Nonstock Festival und das Sound of the Forest verfügen über strukturelle Awareness-Teams. Und das Team von Catcalls of Darmstadt kreidet das Thema sexuelle Belästigung in sämtlichen Kontexten im wahrsten Sinne des Wortes an, indem es mit Kreide selbst erlebte Situationen am Ort des Geschehens aufs Pflaster schreiben.
Ein weiteres Konzept zur Prävention sexueller Belästigung ist die „LILY“-Anlaufstelle des SV Darmstadt 98. Die im Juli 2019 gestartete Fan-Initiative richtet sich an Besucher:innen der Heimspiele im Böllenfalltorstadion und verfolgt das Ziel, verbale und nonverbale Übergriffe im sportlichen Umfeld zu verhindern. Wenn eine weiblich gelesene Person während eines Spiels im Stadion sexuell belästigt wird oder sich unwohl fühlt, kann sie die Anlaufstelle anrufen und die ehrenamtlichen Ersthelferinnen am Spieltag um Unterstützung bitten. Diese sind darauf vorbereitet, schnell, unauffällig und vertraulich zu helfen, ganz im Sinne der Betroffenen. Das „LILY“-Projekt geht über die unmittelbare Hilfe hinaus: Der Verein setzt sich aktiv dafür ein, das Bewusstsein für sexuelle Belästigung zu schärfen und präventive Maßnahmen zu fördern. Dazu gehören Schulungen für das Personal, Informationskampagnen und die Zusammenarbeit mit lokalen Beratungsstellen. Ziel ist es, eine sichere und respektvolle Atmosphäre im Stadion zu schaffen, in der sich alle Besucher:innen wohlfühlen. Die „LILYs“ erreicht Ihr mobil beim Heimspiel unter (0152) 22445245 und per Mail unter lily@fufa-sv98.de. (ap + ct)
centralstation-darmstadt.de/luisa-ist-hier-2
Sexualisierte Gewalt und ihre Formen
Sozialpädagogin Leonie Babion vom Sozialkritischen Arbeitskreis (SKA) Darmstadt e. V. erklärt uns im Gespräch ein bedeutendes Detail, das oft übersehen wird: Das Wort „Missbrauch“ impliziert einen möglichen „Gebrauch“. Daher wird zunehmend von sexualisierter Gewalt gesprochen. Hierbei dienen sexuelle Übergriffe in der Regel als Mittel zur Machtausübung, das heißt das Ziel der Täter:innen ist es, sich selbst über die betroffene Person zu erheben. Dies kann in Form von Diskriminierung, Hands-Off-Delikten (zum Beispiel Gaffen) oder Hands-On-Delikten (zum Beispiel Körperkontakt) stattfinden. Alle benannten Delikte sind per Definition sexuelle Übergriffe/Belästigung. Sexuelle Nötigung liegt dann vor, wenn der Täter/die Täterin die betroffene Person mittels physischer oder psychischer Gewalt zu ungewollten sexuellen Handlungen drängt. Eine Vergewaltigung ist die massivste Form der sexualisierten Gewalt. Sie ist sexuelle Nötigung ohne das (vermeintliche) Einverständnis der betroffenen Person und beinhaltet vaginales, anales oder orales Eindringen ohne Selbstbestimmung. Die Grenze, ob ein Verhalten sexuell übergriffig ist, werden im Fall der Hands-Off-Delikte durch die Betroffenen selbst definiert. Ob im Nachtleben, im Stadion, in der Gastronomie oder wo auch immer: Wenn Menschen bemerken, dass sexualisierte Gewalt auf andere ausgeübt wird, sollten sie die betroffene Person ansprechen (zum Beispiel mit der Frage: „Brauchst Du Unterstützung?“ oder „Möchtest Du woanders hingehen?“), nicht aber den Täter oder die Täterin. Im Fall von Nötigung und Vergewaltigung solle man nur eingreifen und die Betroffenen aus der Situation befreien, sofern man sich selbst nicht in Gefahr begibt. Selbstschutz gehe immer vor Fremdschutz. Häufig gibt es auch Awareness-Teams, welche telefonisch erreichbar sind. Um die Situation zu deeskalieren und die Gewalt ausübende Person entfernen zu lassen, lässt sich auch der Sicherheitsdienst hinzuziehen.
Wenn man eine Person im Umfeld oder Freundeskreis hat, die übergriffig geworden ist, solle man diese ansprechen und ein Zeichen setzen, empfiehlt Katharina Rohmert von Pro Familia Darmstadt. Es müsse eine Unterbrechung von Musterverhalten stattfinden, erklärt die Ärztin, Sexualmedizinerin und psychoanalytisch orientierte Beraterin weiter. „Das Distanzieren von der Person führt nicht unbedingt zu einer Verhaltensänderung. Beobachten und Einschreiten ist sinnvoll.“ Im Jahr 2023 wurden 98 Fälle sexueller Belästigung bei Pro Familia registriert. Die Dunkelziffer sei viel höher. (ap + ct)