Die Stifte stecken im Kopf: Das Haupt einer ausrangierten Plastikpuppe muss als Schreibtisch-Organizer herhalten. In Paul-Hermann Gruners Wohnung im Darmstädter Martinsviertel finden sich überall kleinere oder größere, von surrealem Humor geprägte Erzeugnisse dieser Art. Woanders hängen Besucher ihren Mantel am Garderobenständer ab, hier tun sie es an einen der Zinken der zweckentfremdeten Mistgabeln im Flur. Bildende Kunst und Schriftstellerei gehen bei Gruner oft eine Verbindung ein. Häufig sind in seine Objekte Buchstaben eingearbeitet. Eine Montage mit auf einen Grillspieß aufgesteckten Puppenteilen über einer Zwischentür trägt die Aufschrift: „Barbie Q“.
„Ich bin Autor, Journalist, bildender Künstler und Wissenschaftler“, sagt der 58-Jährige. Ein wahrer Renaissance-Mensch – was in seinem Fall tatsächlich zutrifft: Unlängst veröffentlichte er seine Dissertation, die sich mit der „suggestiven Konfiguration von ‚Weiblichkeit‘ in Frauenzeitschriften“ beschäftigte. Als Mitherausgeber brachte er kürzlich die Anthologie „Vom Targetrad zum Federkiel“ heraus. In dieser treffen Physiker des in Darmstadt-Wixhausen ansässigen GSI Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung auf Autoren der Literaturgruppe Poseidon. Und mit nur geringem zeitlichem Abstand folgt nun ein neues belletristisches Buch, eine Sammlung von Kurzgeschichten: „Die extrem kurze Zeit der Seligkeit“.
Auch darin zeigt sich Gruners Faible für absurden Witz. Der Schreibstil ist so bildhaft, dass er den Leser in die humorvollen bis makabren Geschehnisse unmittelbar hineinzieht. Zum Beispiel in die in einer unbenannten Großstadt spielenden Auftaktstory „Linie 19“. Darin erzählt Gruner von einem Mann, der sich kurzerhand selbst hinters Steuerrad einer Straßenbahn klemmt, nachdem der Fahrer sein Führerhäuschen auf freier Strecke einfach verlassen hat. Auch wenn eine Tram auf Gleisen fährt, läuft dann doch einiges schief … „Der Typ, der die Straßenbahn fährt, das sind wir alle“, erklärt Gruner die Hintergründe der parabelhaften Geschichte. „Wenn wir anfangen, Entscheidungen zu treffen, müssen wir scheitern. Doch gar nichts zu tun, wäre ja auch verkehrt.“
Pechschwarzer Humor, eher leiser Ton
Der Humor ist schwarz, pechschwarz. „Die Geschichten gehen oft schlecht aus“, räumt Gruner ein. So auch „Piper nigrum“: In der Story wird ein wenig des verschütteten, titelgebenden schwarzen Pfeffers am Ende zu einer Frage von Leben und Tod. Der Ton ist eher leise, die Texte sind keinesfalls schreiend komisch. Der Autor sieht in den Texten einen „lakonischen Sarkasmus“ walten, der „so mehr um die Ecke herum“ zum Leser komme.
Seit 1984 veröffentlicht Gruner Geschichten, Gedichte und Glossen sowie journalistische Artikel und Sachbücher. In den Neunzigern schrieb er Texte für den Kabarettisten Dieter Hildebrandt („Scheibenwischer“). 2000 brachte er die soziologische Streitschrift „Frauen und Kinder zuerst: Denkblockade Feminismus“ heraus, 2009 das Buch „Befreiungsbewegung für Männer“. Zum Thema Feminismus hat Gruner sehr eigenwillige Ansichten. In einem Essay für die Internet-Plattform streitbar.eu etwa fordert er das „nötige Ende der Bevorzugungspolitik für Frauen – auch in Hochschulen und Universitäten“ und sieht eine „institutionalisierte Frauenförderung, die nichts anderes als eine organisierte Männerbenachteiligung“ sei. Aha.
2012 veröffentlichte er den Roman „Wunderlich und die Logik“. Gruner gewann diverse Preise und holte mehrere Stipendien. 2013 kürte ihn der Förderkreis Hochzeitsturm zum ersten „Darmstädter Turmschreiber“. Die Texte aus dieser Zeit sind in dem Band „La Tour Du Mariage“ versammelt. In Darmstadt kennt man Gruner vor allem aus seiner Zeit beim „Echo“. Dort arbeitete er von 1996 bis 2016 als Redakteur.
In die Heinerstadt verschlug es den gebürtigen Rüsselsheimer 1982. Weggezogen hat es ihn bis heute nicht, auch in keine der für Literaten angesagten Metropolen. „Als Künstler sucht man immer eine Verortung im Kleineren. Ich brauche Windstille, um mich in die Stürme zu begeben.“ Die Stadtgröße Darmstadts reiche auch vollkommen. Das ganze Rhein-Main-Gebiet sei ja ein „Kulturmotor“. Gruner ist ohnehin ein literarischer Weltenbürger. Mit Storys von Eduardo Galeano oder Richard Ford als Handgepäck können seine Gedanken bequem überall hinreisen – ob nach Uruguay oder in die USA. „Metropole ist mein Kopf“, sagt er kurz und knapp. Und durch diesen schwirren viele Ideen und Einflüsse. Die Stifte, um sie zu Papier zu bringen, stecken in einem Puppenkopf auf seinem Schreibtisch.
Gruners aktuelles Buch
„Die extrem kurze Zeit der Seligkeit“
Zehn Kurzgeschichten und ein Hörspiel
Justus von Liebig Verlag, ISBN 978-3-87390-405-7, 172 Seiten, 15,80 €