Foto: Nouki Ehlers, nouki.co

„Ich nehme Wieczorek besser wahr als er mich! – und das ist nicht eben ein Kompliment für einen Schriftsteller. Es kränkt mich, um offen zu sein, wenn Wieczorek nichts weiter in mir sieht als eine Figur …“ Moment mal – das ist ja frech: Eine fiktive Person lehnt sich gegen ihren Autor auf, der sie erschaffen hat? Willkommen in der literarischen Welt des Schriftstellers Rainer Wieczorek.

„Schriftsteller“ ist freilich zu eng gefasst. Viele Darmstädter kennen Rainer Wieczorek aus ganz anderen Zusammenhängen: Er war Sänger der Zentralband, einer der ersten Combos im Probekeller der Bessunger Knabenschule; er gestaltete das Programm des Darmstädter Literaturhauses und ist Lehrer für Deutsch und „PoWi“ an der Bertolt-Brecht-Schule. Als Musiker tritt Wieczorek, der hervorragend Gitarre und Posaune spielt, schon lange nicht mehr öffentlich auf. Seit seinem im Jahr 2000 erschienenen Erzählband „Zweifelhafte Geschichten“ hat er sich voll und ganz auf das Schreiben verlegt und es dabei überregional zu Renommee gebracht. Seine im rheinischen Dittrich Verlag veröffentlichten Bücher sind mit Preisen ausgezeichnet und erhalten in den Feuilletons von Zeitungen wie der Schweizer NZZ und Berliner „taz“ gute Kritiken. In der vom MDR produzierten Hörspieladaption seiner „Tuba-Novelle“ (2010) spricht kein Geringerer als der aus Film und Fernsehen bekannte Burghart Klaußner („Der Staat gegen Fritz Bauer“) eine Rolle.

Inspirationsquelle Jazz

Nun hat der in Eberstadt lebende Wieczorek gleich zwei neue Bücher am Start: die Novelle „Pirmasens“ – aus der das Eröffnungszitat stammt – und „Im Gegenlicht: Heinz Sauer“, ein literarisches Porträt des großen deutschen Saxofonisten. Die beiden Bücher sind ein sich ergänzendes Duo. Eine gemeinsame Klammer ist: der Jazz. „Den habe ich mit 26 entdeckt“, sagt der heute 64-Jährige. Davor waren es die Rock- und Folkmusik: „Mit 14 habe ich Gitarre angefangen und Lieder von Degenhardt, Biermann und Dylan gespielt.“ Mit dem im Taunus lebenden 88-jährigen Heinz Sauer, der in den 1960ern mit dem Albert Mangelsdorff Quartett um die Welt getourt war und in jüngerer Zeit im Duo mit dem Pianisten Michael Wollny Erfolge feierte, verbindet Wieczorek eine langjährige Freundschaft. Als er den als Interviewpartner schwierig geltenden Musiker fragte, ob er ein Buch über ihn schreiben könne, sagte dieser gleich: „Ja.“ In vielen gemeinsamen Treffen im heimischen Eberstädter Garten erzählte ihm der Musiker seine Lebensgeschichte und reflektierte über seine Kunst.

„Im Gegenlicht“ ist viel mehr als eine Biografie Heinz Sauers. Es ist eine Kulturgeschichte der Nachkriegs-BRD und eine Hommage an den modernen Jazz. Zugleich ist es ein Stück Literatur: Neben realen Geschehnissen und Personen tritt die fiktive Figur Danski auf, die den Dialog mit dem Erzähler sucht. In „Pirmasens“ spielt der gegenüber seinem Autor aufmüpfige Danski ebenfalls eine tragende Rolle. Die in der titelgebenden ehemaligen pfälzischen Schuhfabrikmetropole angesiedelte Novelle ist ein typischer Wieczorek. Der Autor ist Meister der Verknappung, des Weglassens. Seine Worte sind wohlgesetzt, seine Sätze geschliffen. Statt mit einer Handlung glänzt der Text mit spielerischen Kapriolen, feiner Ironie, einem Hang zum Absurden. Als Vorbilder nennt Wieczorek unter anderem Samuel Beckett und Thomas Bernhard.

„Ich schreibe gegen die Publikumserwartung an“, sagt Wieczorek. „Ich möchte kein Entertainer sein, der manipulativ an irgendwelchen Knöpfchen dreht.“ Diese Einstellung teile er mit Jazz-Erneuerern wie Heinz Sauer. Auch der sei ein Meister des Weglassens. Sauer habe einmal gesagt: „Manche Musiker spielen viele Töne, sagen aber nichts.“ Ähnlich verhalte es sich mit dem „ausufernden Inhaltismus“, so Wieczorek, von so manchen Romanen, die bloß auf „Handlung, Handlung, Handlung“ setzten. Sperrig sind Wieczoreks Werke indes nicht. Wer sich auf seine literarischen Welten einlässt, erlebt wahre Leseabenteuer. Für eine schwierige Lektüre sind sie auch viel zu leichtfüßig erzählt.

Apropos leichtfüßig: Seine nächste Novelle handelt von einem äußerst populären Thema. „Es geht um die Abstraktion des Fußballspiels“, erklärt Wieczorek. Arbeitstitel: „Spiel an der Außenlinie“. Nein, um den SV 98 gehe es darin nicht, sagt er. Das Team werde durchgehend „die Heimmannschaft“ genannt. Also doch die Lilien – oder doch nicht? Das überlassen wir dem literarischen Eigensinn des Rainer Wieczorek.

 

Die Bücher

„Im Gegenlicht: Heinz Sauer“, erschienen im Dittrich Verlag, 140 Seiten, 13,90 € (Paperback), 22,90 € (Hardcover)

„Pirmasens“, erschienen im Dittrich Verlag, 124 Seiten, 12,90 € (Paperback), 22 € (Hardcover)

 

Nächste Lesung

Stadtkirche | Mo, 26.04. | 19.30 Uhr | 10 €

 

Der Autor

Rainer Wieczorek wurde 1956 in Darmstadt geboren. Nach einer Lehre zum Musikalienhändler holte er auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nach. Dann: Studium der Germanistik und Sozialpsychologie. Von 1986 bis 1992 Sänger und Posaunist der Zentralband. Seit 1992 Lehrer an der Bertolt-Brecht-Schule Darmstadt. Von 1995 bis 2009 gestaltete er mit Andreas Müller das Programm des Darmstädter Literaturhauses. Werke: „Zweifelhafte Geschichten“ (2000); „Der Intendant kommt“ (2005); „Zweite Stimme“ (2009); „Tuba-Novelle“ (2010); „Freie Hand“ (2012); „Kreis und Quadrat“ (2016); „Form und Verlust“ (2017).

rainer-wieczorek.de