Darmstadt entdecken. Obwohl man schon alles kennt. Oder man neu ist, die Stadt aber gerne abseits der üblichen Touri-Pfade sehen, riechen und fühlen möchte. Das interessiert Alt- wie Neu-Darmstädter, dachten wir uns – und starten die neue Serie „Stadt(an)sichten“. Darin stellen uns ganz unterschiedliche, in der Südhessen-Metropole lebende Menschen ihre vier persönlichen Darmstädter Orte aus ihrer subjektiven Perspektive vor. Jede Folge ist eine andere Persönlichkeit dran – das kann ein Fußballprofi sein, eine Postbotin, ein Straßenreiniger, der Punk vom Lui oder die Ballerina aus dem Staatstheater. Zum Auftakt zeigt uns eine wahre Expertin des Genres Stadtplanung ihre vier Orte: Kerstin Schultz, Architekturprofessorin und Vorsitzende des Vereins Darmstädter Architektursommer.

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Idylle im Akaziengarten | Foto: Hannah Morche

1. Station: Akaziengarten (mit Fliederberg)

„Es gibt Orte, da sollte was passieren. Und Orte, da sollte man einfach nix tun. Zu Letzteren gehört dieser“, sagt Kerstin Schultz, als wir die Eschollbrücker Straße auf Höhe Nummer 27 überqueren und den Akaziengarten betreten. Erst vor wenigen Wochen habe sie „diesen paradiesischen Ort direkt hinter der lautesten, unwirtlichsten Durchgangsstraße der Stadt“ entdeckt. Tatsächlich: Hinter uns rauscht eine Blechlawine vorbei, vor uns liegt eine kaum bekannte, rund sechs Hektar große Oase. Auch, dass der Hessische Rechnungshof hier residiert, stört das Idyll wenig. Die restlichen Bauten des Parks sind schnuckelige Wohngebäude, deren rührige Bewohner in der Bürgerinitiative Pro Akaziengarten e. V. seit 2005 für die Nicht-Bebauung und den Schutz der Parkanlage und deren Flora und Fauna kämpfen, also für das „NIX TUN“. Auch ihre sechs Schrebergärten repräsentieren den harmonischen Kollektiv-Gedanken: Zäune gibt es keine – und einen Teilbereich lässt man verwildern, damit sich Vögel und Eichhörnchen weiterhin wohlfühlen. Neben den Schrebergärten: alte Pflastersteine. Am Ende des Parks: nostalgisch anmutende Garagen, hinter denen der Fliederberg fast schon majestätisch emporsteigt. Noch ein bisschen Streberwissen zum Abschluss: „Im Jahr 1817, dem Hungerjahr nach den Napoleonischen Kriegen, ließ Großherzog Ludwig I. als Notstandsarbeit einen Garten auf dem Grundstück seiner Schwiegertochter anlegen. Neben der Anlage des Gartens wurde am östlichen Rand der noch heute erhaltene Fliederberg als Aussichtshügel aufgeschüttet, der aufgrund seiner Entstehung noch lange Zeit im Volksmund den Namen ,Hungerberg‘ führte. Erzählungen zufolge beteiligten sich auch wohlhabende Bürger freiwillig an den Arbeiten und überließen ihren Verdienst den Bedürftigen. Aufgrund des kargen Sandbodens wurde in den Alleen des Parks in erster Linie die Akazie gepflanzt, die Hänge des Fliederbergs bepflanzte man mit Flieder.“ (Quelle: www.proakaziengarten.de)

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Ein heißes Eisen: das Saladin-Eck | Foto: Hannah Morche

2. Station: Saladin-Eck

Wir fahren weiter. Nächste Station: das Saladin-Eck zwischen „Krone“ (Altstadt), Marktplatz-Gebäude (50er-Jahre), Residenzschloss (ursprünglich 13. Jahrhundert) und Kramm-Gebäuderiegel (90er). Stadtplanerisch ein heißes Eisen, das aktuell auch viel diskutiert wird (siehe Artikel auf Seite ?? dieser Ausgabe, mit Abbildung des Siegerentwurfs). Kerstin Schultz saß in der Jury, die aus 16 Mitgliedern bestand und Anfang Oktober den Entwurf des Berliner Architektenbüros Studioinges zur Umsetzung empfohlen hat. Sie ist überzeugt: „Das ist für die Innenstadt eine absolute Bereicherung – auch für die ‚Krone‘.“ Beeindruckt hat sie an dem Siegerentwurf besonders „dass man den Besucher in die Kurve holt“, dass das Gebäude seine Nachbarschaften intelligent ausbalanciert, gleichzeitig eine starke Präsenz zeigt und flexibel im Inneren ist.“ Zudem habe sie „die Art der Stadt bewundert, sich dem Projekt so offen und großstädtisch zu nähern.“ Für Kerstin Schultz sind die neuen Pläne „eine städtebauliche Chance“, deshalb fordert sie: „ERMÖGLICHEN“!

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Ein Dschungel mitten in Darmstadt | Foto: Hannah Morche

3. Station: Kraftsruhe

Weiter geht’s ins Steinbergviertel (zwischen Böllenfalltor und Bessungen). Wo man hinsieht: repräsentatives Wohnen – oft mit Gärten, die über die Jahre wunderbar verwildert sind. Inmitten dieses Wohngebiets der Steinreichen betreten wir einen kleinen Trampelpfad und sind absolut unvermittelt im „STEINREICH“. Oder wie das Areal zwischen Jüdischem Friedhof und Heinrichwingertsweg offiziell heißt: in der Kraftsruhe. „Ein Dschungel, mitten in der Stadt“, freut sich Kerstin Schultz. Die Kraftsruhe ist ein „flächenhaftes Naturdenkmal“, hier lässt es sich ganz exquisit chillen. Bewachsen ist sie mit unzähligen Bäumen und Sträuchern, an ihrer höchsten Stelle liegen große Steinbrocken herum, die die sagenumwobenen Riesen wohl auf ihrem Weg zum Felsenmeer ins Lautertal hier verloren haben. Benannt wurde das 6.825 Quadratmeter große Gelände nach Friedrich Kraft (1807–1874), dem Präsidenten des Großherzoglichen Hofgerichts. Ab 1870 ließ Friedrich Kraft den Steinberg mit Bäumen und Sträuchern bepflanzen. Von der Kraftsruhe hatte man einen herrlichen Ausblick auf die Rhein-Ebene. Um 1890 plante man den Bau eines Aussichtsturms, der aber nicht realisiert wurde. Gut so. So bleibt die Kraftsruhe das Reich der Bäume, Sträucher und Steine.

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Freiraum und kreatives Forum am Osthang | Foto: Hannah Morche

4. Station: Osthang

Zum Abschluss besuchen wir einen echten Herzensort von Kerstin Schultz: der Osthang. Er war einmal ein unscheinbarer, verwilderter Hang. Trotz der Intervention des Architektursommers im Sommer 2014 wurde seine Wildheit bewahrt. Gleichzeitig hat man ihn aus seinem Dornröschenschlaf geweckt. Mit großem planerischen und handwerklichen Geschick wurde er zu einer urbanen Architektur-trifft-Kunst-und-Wissenschafts-Plattform mit kleiner Bar und Café umgebaut. Am Rande der „Stadtkrone“ Mathildenhöhe, die auf bestem Wege zum Unesco-Welterbe ist, ist ein inspirierender Ort entstanden, der diesen Sommer von der Initiative „OHA Osthang“ kulturell bespielt wurde. Kerstin Schultz ist die Initiatorin des Projekts, bei dem sich der Osthang dank praxisorientierter Architektur-Workshops und Symposien täglich neu erfand und baulich weiterentwickelte. Den Ursprung des Zaubers, den er auch heute noch ausstrahlt, beschreibt sie so: „Durch die Offenheit des Ortes und den alternativen Umgang mit Freiraum und Planungsstrukturen entstand im Osthang Project eine einzigartige Atmosphäre, ein kreativer Schmelztiegel, gespeist von der Spontaneität und dem Idealismus der Teilnehmer und getragen von dem Wunsch, einen authentischen Ausdruck des Ortes zu prägen.“ Und mit HERZCHEN in den Augen fügt sie an: „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, dass hier mal was anderes war.“ Von uns aus hätte sie sich auch „BEWAHREN!“ aufs Statement-Schildchen schreiben können. www.osthang-project.org

 

Vita Kerstin Schultz

1967 geboren in Bottrop. 1997 Diplom an der TU Darmstadt. Seit 1998: Liquid Architekten mit Werner Schulz (unter anderem Inneneinrichtung Centralstation und Weststadtcafé). 2000 bis 2007 Lehraufträge an der Hochschule Darmstadt (h_da) und der Fachhochschule Mainz. Seit 2007 Vorsitzende des Vereins Darmstädter Architektursommers e. V. (hat unter anderem 2014 Osthang Project ins Leben gerufen). Seit 2008 im Studiengang Architektur und Innenarchitektur der h_da Professur für Bauen im Bestand, Innenausbaukonstruktionen und Ausbautechnologien.