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Das Darmstädter Theaterstück „Achterbahn“ setzt sich performativ mit der Persönlichkeitsstörung Borderline auseinander

 

Was ist Borderline?

Borderline beschreibt eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, bei der das eigene Selbstbild, Ziele und innere Präferenzen unklar und gestört sind. Diese äußert sich in Impulsivität, die wechselhafte launenhafte Stimmung beinhaltet, sowie instabilen, aber intensiven zwischenmenschlichen Beziehungen, dem chronischen Gefühl der inneren Leere und manchmal auch in körperlichen Selbstbeschädigungs-Handlungen.

„Es ist wie auf einer Achterbahn – man steht ständig unter Druck.“ Immer wieder intonieren die drei Schauspielerinnen diesen Satz. Abwechselnd. In verschiedenen Lautstärken. In verschiedenen Tempi. Mit unterschiedlicher Emotionalität. Der Raum ist gefüllt mit Dynamik, Energie und beeindruckender Vehemenz.

Ich befinde mich im Jugendhaus Huette in der Kiesstraße 16. Es riecht nach dem gerade beendeten Mittagessen und Jugendtreff. Die Tische wurden aus dem Weg geräumt, jetzt ist Raum für eine weitere Probe des Theaterstücks „Achterbahn“. Es thematisiert die Persönlichkeitsstörung Borderline und wurde im Rahmen des Trialogs Darmstadt entwickelt. Trialog bedeutet das gleichberechtigte Gespräch dreier Gruppen: die von einer psychischen Erkrankung betroffenen Menschen, die Angehörigen psychisch erkrankter Menschen und psychiatrische Fachleute (Psychiater, Psychotherapeuten, Krankenpflegepersonal).

Seit Ende Januar arbeitet in Darmstadt ein Ensemble, das aus drei Laiendarsteller*innen (darunter eine Tänzerin und ein Musiker) sowie einer professionellen Schauschauspielerin besteht, eine szenische, künstlerische und performative Collage aus. Diese thematisiert Borderline abstrakt mit spielerischen, tänzerischen und musikalischen Mitteln. „Der Text des Stückes wurde mithilfe von Interviews mit Betroffenen, Angehörigen und Psychologen entwickelt. Diese habe ich selbst geführt“, erklärt Kai Schuber-Seel, Theaterpädagoge, Regisseur, Diplom-Sozialpädagoge und Mitglied des Vereins Theatermacher e. V. Der Darmstädter Bühnenautor Benjamin Ting übersetzte den Inhalt dieses Interviews in ein Skript.

Gleiches Mitspracherecht und Ansehen für alle

Die Feinheiten der Dialoge und den künstlerischen Ausdruck entwickelte das Ensemble dann gemeinsam mit Regisseur Kai Schuber-Seel: „Ob Laie oder professionelle Schauspielerin, ob selbst von Borderline betroffen oder nicht: Alle haben das gleiche Mitspracherecht und Ansehen im Ensemble. Das ist mir ganz wichtig.“ Vor allem in den ersten Proben wurde das Skript gemeinsam reflektiert, diskutiert, hinterfragt und verändert. Dann kommt der performative Feinschliff.

Nach dem Proben einer Szene wird direkt im Anschluss besprochen, wie sich die Schauspieler gefühlt haben, welche Emotionen im Innen und Außen aufgetreten sind. Es wird auch reflektiert, in welchem Kontext die Szene der Realität entsprechen könnte und ob Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung dies tatsächlich so empfinden könnten. Ein sehr anspruchsvolles Arbeiten. Musikalisch wird das Stück von Cristóbal Gonzalez begleitet, der in einigen Szenen auch als Schauspieler agiert.

Franka Bohny verkörpert im Stück eine junge Frau mit einer Borderline-Störung. Für sie ist es von großer Bedeutung, im Schauspiel zu zeigen, dass eine Person mit einer psychischen Erkrankung nicht die Erkrankung per se ist: „Die Erkrankung ist nur ein Teil der Person. Es gibt viele andere eigenständige Charaktermerkmale, die auch im Vordergrund stehen und inszeniert werden sollen.“

„Achterbahn – Borderline trifft Theater“ ist Teil des ersten Darmstädter Borderline-Trialogs Ende April im Theater Moller Haus. Initiator des Abends ist der Diplompsychologe und Verhaltenstherapeut Hans Gunia, ein ausgewiesener Spezialist für Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Gemeinsam mit Öffentlichkeitsarbeiterin Wasiliki Waso Koulis hatte er die Idee, „als Herzensprojekt einen Trialog in Darmstadt ins Leben zu rufen“. Ihr Ansatz: den Trialog auf eine künstlerische Art und Weise zu begleiten. So wurde Kai Schuber-Seel angefragt, Teil des Orga-Teams zu werden und ein Theaterstück zu entwickeln.

Der Stigmatisierung vorbeugen

„Das Theater kann für Menschen Türen öffnen, die sich sonst nicht mit der Thematik psychische Erkrankungen beschäftigen“, erklärt Schuber-Seel. Die Stigmatisierung von Menschen mit seelischen Erkrankungen sei auch heute noch tief in der Gesellschaft verankert. „In unserer Gesellschaft, in der Druck und Schnelllebigkeit herrschen, ist auch damit zu rechnen, dass man selbst erkranken kann beziehungsweise viele bereits erkrankt sind, aber sich nicht trauen, offen darüber zu reden“, so der Theaterpädagoge weiter. Akzeptanz, Sensibilität und Achtsamkeit für sich und andere zu entwickeln: Darum geht es ihm – und auch dem Trialog Darmstadt.

 

1. Darmstädter Trialog mit Premiere von „Achterbahn – Borderline trifft Theater“

Ursprünglich für Mi, 29.04. im Theater Moller Haus geplant, wegen der Corona-Pandemie auf Herbst/Winter 2020 verschoben, findet nun als gestreamte Erstaufführung am Donnerstag, 12. November, um 19 Uhr statt (Link auf: www.trialog-darmstadt.de).

Auftakt des Darmstädter Trialogs mit Fachvorträgen des Psychotherapeuten Hans Gunia und der Diplom-Sozialpädagogin Anja Link (Gründerin des Borderline-Trialog e. V.) sowie Szenische Lesung, Einblicke in die Theaterarbeit/Premiere des Theaterstücks „Achterbahn – Borderline trifft Theater“.

An „Achterbahn“ Mitwirkende:

Regie: Kai Schuber-Seel

Assistenz: Cristóbal Gonzalez

Bühne, Ausstattung: Anna Lehn

Autor: Benjamin Ting

Technik: Frederik Freber

Ensemble: Hannah Bröder, Nadia Kramwinkel, Setareh Nori Safidkhani, Franka Bohny und Cristóbal Gonzalez

www.trialog-darmstadt.de