Den Böllenfalltorstadiongängern ist das Lied zur Melodie von „Bella Ciao“ wohlbekannt: „Eines Tages, ging ich ans Bölle. Die Sonne schien, alle schrien für den SVD.“ Nun, das mit dem Anfeuern, das nehmen auf der Gegengerade ganz offenbar nicht alle so genau. Zumindest kam zu Beginn der Rückrunde eine veritable Diskussion auf, ob die ebenso neue wie gewaltige Tribüne mit ihren über 7.000 Heimfans nicht deutlich zu wenig in den Support ihrer Lilien investiert.
Doch wie kann das sein? Hatten sich nicht viele – allen voran der Klub selbst – von der hochaufragenden, überdachten Tribüne einen eindrucksvollen Klangkörper versprochen? Zumal die Zuschauer im Unterrang Stehplätze einnehmen. Schon, als Ende 2022 die ersten Fans auf der Haupttribüne Platz genommen hatten, gab es Stimmen, die sich verwundert über eine vergleichsweise ruhige Gegengerade zeigten. Vielmehr wären sogar die zahlenmäßig unterlegenen Gästefans am einen Ende der Gegengerade deutlich lauter zu hören als der große Rest. Was erlauben Gegengerade?!
Spätestens nach dem Rückrundenauftakt gegen Regensburg nahm die Debatte so richtig Fahrt auf. Die Lilien hatten etwas schwerer in die Partie gefunden, dann jedoch ein Gastgeschenk zum 1:0 angenommen, und nach einem Platzverweis für den Kontrahenten noch vor der Pause auf 2:0 erhöht. Somit war gegen dezimierte Gäste schon nach 45 Minuten der Deckel drauf. Da die 98er danach nicht mehr allzu viel ins Angriffsspiel investierten, plätscherte die Begegnung dahin. Dass die Gegengerade sich stimmungstechnisch den frostigen Temperaturen angepasst hatte, wurde im Nachgang heiß diskutiert. Sind wir Gegengeraden-Fans – zu denen auch ich zähle – etwa für eine „Scheißstimmung“ verantwortlich, um einen ehemaligen Fußballfunktionär aus München zu zitieren? Umso mehr, als wir auch im darauffolgenden Heimspiel gegen Braunschweig lange eher verhalten in den Support eingestiegen waren.
Der Verein befragt die Mitglieder
Sogar der SVD sah sich anschließend bemüßigt, die Vereinsmitglieder in seinem Newsletter zur Stimmung am Bölle zu befragen. Demnach bewerteten etwas mehr Antwortende die Stimmung gegen Regensburg positiver als wirklich kritikwürdig. Die meisten gaben jedoch an, die Stimmung im Stadion sei neutral gewesen. Für ein Heimpublikum sicher auch nicht die beste Referenz. Gegen Braunschweig war dann schon eine knappe Mehrheit happy. Explizit nach der Stimmung auf der Gegengerade befragt, fand sie die Hälfte neutral, ein Drittel war glücklich mit ihr. Also doch alles gar nicht so schlimm? Konkreter nach dem eigenen Empfinden zur Stimmung befragt, antwortete ein Fünftel, sie sei für einen Tabellenführer zu schlecht. Etwas mehr erkannten immerhin im Spiel gegen Braunschweig einen Aufwärtstrend. Knapp mehr als die Hälfte fanden sie entweder okay, da es nach der langen Winterpause schwer gewesen sei, wieder in Stimmung zu kommen, oder sie fanden sie sogar absolut gut, da die Südtribüne Gas gebe und die anderen mitziehen, wenn sie gebraucht würden.
Genau diesen letzten Eindruck teile auch ich. Gegen Regensburg, war der (Koch-)Käse schnell gegessen. Gegen Braunschweig war die Gegengerade mit dem Rückstand per Strafstoß nach VAR-Entscheid angefixt. Diese vermeintliche Ungerechtigkeit nimmt man als Fan immer persönlich und protestiert lautstark, um sich fortan stärker ins Spiel einzubringen. Die Gegengerade forcierte jedenfalls ihren Support und feierte am Ende euphorisiert das gedrehte Spiel. Im Zuge der Aufholjagd zeigten sich Teile der Gegengerade aber auch mürrisch. Der eingewechselte Keanan Bennetts wurde auf dem linken Flügel vor der Gegengerade so oft im Aufbauspiel übersehen, dass es schon Pfiffe gab und dann Applaus, als er endlich einbezogen wurde. Ein Sachverhalt, der Kapitän Fabi Holland – nach allem, was man nach dem Spiel so aufschnappt – deutlich missfallen haben soll.
Die Gegengerade spiegelt das Geschehen auf dem Platz wider
Gegen den HSV gab es im nächsten Heimspiel dann keinen Grund für Missverständnisse mehr. Die Rahmenbedingungen waren aber auch andere: Großer Name, Flutlicht, Topspiel. Der frühe Rückstand und die ebenso stark fightenden wie aufspielenden 98er hatten sofort die Gegengerade hinter sich. Insofern bin ich überzeugt, dass die Gegengerade primär auf Impulse auf dem Rasen reagiert. Sie ist da, wenn sie ihr Team benachteiligt sieht. Sie pusht, wenn ein Rückstand umzubiegen ist. Sie supportet lautstark, wenn ihr Team auf dem Rasen leidenschaftliche Signale aussendet. Und sie verhält sich eben spürbar leiser, wenn sich die Mannschaft im Verwaltungsmodus befindet oder es einfach wenig Aufreger gibt. All diese Signale vom Rasen wirft sie wie eine Wand zurück aufs Spielfeld. Insofern ist die Stimmung deutlich stärker spielbezogen als auf der Südtribüne, die stark von den Ultràs geprägt ist. Deren orchestrierter Gesang ist selbstredend sehr präsent, aber eben auch nicht jedermanns Geschmack. Dass inzwischen per Lautsprecher immer mal wieder von der Süd Kommandos an die Gegengerade gegeben werden, passt nicht jedem. Dieser Versuch des Schulterschlusses ist sicher gut gemeint, ihn sehen aber Leute aus meinem Umfeld und auch ich deutlich kritisch, da er als Bevormundung aufgefasst werden kann.
Große Teile der Gegengerade ticken in dieser Hinsicht eben anders. Sie ist im Vergleich zur Südtribüne deutlich heterogener und besteht inzwischen aus zwei Rängen (unten Steher, oben Sitzplätze), was eventuell eine Barriere für einen sich ausbreitenden Support darstellen mag?! Ein bunter Haufen von Fans war die Gegengerade jedenfalls schon zu alten Bölle-Zeiten. Auf ihr stehen und sitzen kleinere Fanclubs, Kids, Student:innen, nicht mehr ganz so jugendliche Fans und Rentner:innen. Hier wird gerne mal – typisch darmstädterisch – geknoddert, wenn es nicht läuft. Gut möglich, dass angesichts der Erfolge der letzten Zeit manche gar mit einer gestiegenen Erwartungshaltung ans Bölle gehen, als ein routiniertes 2:0 gegen Regensburg zu bejubeln. Über die drei Punkte werden sie sich dennoch gefreut haben. Und so bleibt festzuhalten: Die Gegengerade bringt sich ein, wenn ihr Team sie braucht und mitreißt. Das bedingt dann auch, dass in manchen Spielen weniger Stimmung aufkommt. Es ist aber jedenfalls kein Grund, sich um die Gegengerade Sorgen zu machen. Wenn es darauf ankommt, dann ist sie da.
Crunch Time im Aufstiegsrennen
Fr, 31.03., 18.30 Uhr: 1. FC Nürnberg – SV Darmstadt 98
So, 09.04., 13.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – SC Paderborn 07
So, 16.04., 13.30 Uhr: Fortuna Düsseldorf – SV Darmstadt 98
Fr, 21.04., 18.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – Karlsruher SC
So, 30.04., 13.30 Uhr: Holstein Kiel – SV Darmstadt 98
Matthias und der Kickschuh
Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias „Matze“ Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!