Nach der Saison ist vor Saison. Selten traf dieser Sachverhalt so sehr zu wie in diesem Sommer. Für den 28. Juni ist der letzte Spieltag terminiert und drei Tage später gelten bereits die Arbeitspapiere für die Spielzeit 2020/21. Mit einem solchen ist beim SV Darmstadt 98 Markus Anfang ausgestattet, der neue Mann auf dem Trainerstuhl. Was ist von dem gebürtigen Kölner zu halten?
Seit dem Erstligaabstieg 2017 starten die Lilien nach der Sommerpause in ihre vierte Zweitligasaison. Keinem Coach war es seither vergönnt, zweimal in Folge mit dem SVD in eine neue Spielzeit zu gehen. 2017 war Torsten Frings am Ruder, 2018 Dirk Schuster, 2019 Dimitrios Grammozis und nun ist es Markus Anfang. Kontinuität sieht anders aus. Dabei war dies vor Jahresfrist das erklärte Ziel der Klubverantwortlichen. Nach den gescheiterten Vertragsverhandlungen mit Grammozis waren die 98er – durchaus selbstverschuldet – wieder gefordert, einen neuen Coach zu suchen.
Kieler Himmelsstürmer, Kölner Platzhirsche
Das Rennen machte Anfang, der sich wie Grammozis seine ersten Trainersporen im Juniorenfußball verdient hatte. Vom Leverkusener Nachwuchs war er 2016 zu Holstein Kiel gewechselt und hatte sofort Erfolg. Nach nur einem Jahr enterte er mit den Nordlichtern die 2. Liga, in der ihm fast der Durchmarsch geglückt wäre. Erst Wolfsburg setzte in der Relegation das Stoppschild. Dennoch weckte seine starke Arbeit Begehrlichkeiten. Er folgte dem Ruf aus seiner Heimatstadt Köln. Seine Mission: Der direkte Wiederaufstieg des „Effzeh“ in die Bundesliga. Ende April 2019 hatte er genau das schon so gut wie geschafft, als er drei Spieltage vor Schluss überraschend geschasst wurde (nach einer Niederlage gegen die Lilien). Was ist nun also von unserem neuen Trainer zu halten? Das wollte ich für meinen „Kickschuh“-Blog wissen und streckte meine Fühler nach Kiel und Köln aus. Was ich dabei erfuhr, machte mich schlauer, hinterließ aber frei nach Richard David Precht die Frage, die diesem Text die Überschrift gibt. Denn die Eindrücke, die Markus Anfang in Köln und Kiel hinterlassen hat, könnten konträrer kaum sein.
Er kam, sah und siegte
Zunächst wendete ich mich an Pike aus Kiel, seines Zeichens Mitglied des Holstein-Kiel-Podcasts „1912FM“. Selbst zwei Jahre nach Anfangs Weggang aus Kiel, sprach Pike überaus positiv über den Ex-Coach. Ursprünglich waren sie sich in ihrem Podcast-Team unschlüssig, was vom damaligen Trainer-Novizen zu halten sei, doch Anfang überzeugte und begeisterte sie prompt. Kein Wunder: Die Kieler spielten nicht nur erfolgreich, sondern auch attraktiv und offensiv. Vor allem nach dem Zweitligaaufstieg siegten sie in etlichen Partien deutlich, was für Kieler Verhältnisse sensationell gewesen sei. Anfang habe laut Pike fast jeden Spieler besser gemacht und eine unglaubliche Einheit geformt. Zudem habe er nach dem Aufstieg in die 2. Liga nie etwas vom Klassenerhalt hören wollen. Er wolle nichts verhindern, er wolle lieber gewinnen. Eine Tatsache, die sich in den Ergebnissen niederschlug: Von 72 Ligapartien gewann Holstein unter dem neuen Lilien-Coach fast die Hälfte aller Spiele und verlor nur 13. So bewertet Pike Anfangs Zeit in Kiel als überaus erfrischend. Er habe als Motivator überzeugt und kam an der Küste ebenso sympathisch wie nahbar rüber.
Erdrückende Erwartungshaltung
Okay, okay. Jetzt als SVD-Fan nicht gleich in den Euphoriemodus verfallen. Schließlich galt es, ja noch die Stimme aus Köln einzuholen. Sie lieferte Thomas, Chefredakteur des fast schon professionell geführten Online-Fanzines effzeh.com. Die Spielzeit unter Anfang bezeichnete er in der Rückschau als verkorkst, bleiern und wenig nachhaltig, trotz Tabellenführung und anschließendem Aufstieg. Anfang und dessen Co-Trainer hätten die Kölner Mannschaft laut Thomas recht schnell verloren, also keinen rechten Draht mehr zu ihr gefunden. Zudem sei er nie mit dem Klub warm geworden. Auch habe er an seiner auf Ballbesitz und Kurzpassspiel ausgerichteten Spielphilosophie festgehalten, die aber nur bedingt zum Kader gepasst habe. Die Defensive sei zudem ein stetes Risiko gewesen. Auf mediale Kritik habe Anfang ablehnend bis überheblich reagiert. Gleichwohl betonte Thomas, dass Anfang auch ein Opfer der speziellen Kölner Umstände gewesen sei. Mit dem großen Druck des Wiederaufstiegs und ungeschickten Äußerungen der Vereinsführung, die sich zudem in seine Belange eingemischt habe. Nun: Die Kölner-Variante des nächsten Lilien-Trainers wirkt deutlich weniger attraktiv.
Zurück auf Anfang?
Doch was lässt sich jetzt mit diesen unterschiedlichen Aussagen anfangen? In erster Linie, dass es Markus Anfang mit zwei völlig unterschiedlichen Klubs zu tun hatte. In Kiel startete er bei einem vergleichsweise kleinen Verein sofort durch, brachte Team sowie Umfeld hinter sich und reihte in zwei Jahren Erfolg an Erfolg. Das Ganze wirkte wie ein Selbstläufer. In Köln war er mit einer enormen Erwartungshaltung konfrontiert. Der vereinsinterne Druck war enorm, das nervöse Umfeld in der Medienstadt Köln mit seinen emotionalen Fans tat sein Übriges. So schien Anfang in Kiel sofort angekommen zu sein, in Köln nie. Das könnte dafür sprechen, dass wir in unserem unaufgeregteren Darmstadt eher den Markus Anfang aus Kieler Tagen erleben werden. Pike und Thomas glauben denn auch, dass die 98er mit ihrem neuen Coach gut fahren werden. Eines dürfen die Fans des SVD jedenfalls mit ziemlicher Sicherheit erwarten: mehr Tore. Sowohl in Kiel wie in Köln wiesen Anfangs Teams in jeder Saison das klar beste Torverhältnis aus. Na dann freuen wir uns doch darauf, dass es zukünftig häufiger heißt: „Toooooor für die 98er!“
Aktuelle Infos zu Testspielen und Stadionumbau unter: sv98.de
Matthias und der Kickschuh
Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!