Migration ist ein Begriff, so sexy wie Miederware und lebensfroh wie ein Asket. Dabei stecken hinter dem Terminus, der ziemlich unbeteiligt den „dauerhaften Wohnortwechsel von Menschen“ beschreibt, persönliche Schicksale, manchmal Tragödien, manchmal Romanzen, also immer: das pure Leben. In unserer globalisierten Welt bilden sich dank Migration multinationale Gesellschaften – vor allem in Großstädten. Oft bleiben die einzelnen, meist über Nationalitäten definierten Communitys jedoch unter sich. Man lebt eher nebeneinander statt miteinander. Weil man gegenseitig zu wenig über den anderen weiß. Das P stellt mit der Artikel-Reihe „Darmstadt international“ die hier lebenden und wirkenden Communitys vor. Wie definieren sie sich selbst? Wie finden sie sich zurecht? Wie kommt man ihnen näher? Zum Beispiel auf einem gemeinsamen Grillfest. Darmstadt international, Folge 1: Die polnische Community
„Wir Unsichtbaren“ lautet der Titel des Buches, das Peter O. Loew, stellvertretender Direktor des Deutschen Polen-Instituts, geschrieben hat. Treffend beschreibt er damit den Status der Polen und Polnischstämmigen in Deutschland. Diese bilden nämlich, mit zwei Millionen Menschen, nach den Türken die größte Einwanderungsgruppe der Bundesrepublik. Doch während die Dönerbude an jeder zweiten Ecke selbstverständlich zum Stadtbild gehört, scheint polnische Kultur öffentlich kaum wahrgenommen zu werden.
Um das zu ändern haben sich überall im Land engagierte Menschen zusammengeschlossen und Vereine gegründet – natürlich auch in Darmstadt. Ihr Ziel: Die polnische Kultur, Sprache und Tradition zu pflegen, weiterzugeben und Begegnungen mit dieser zu schaffen. Aber auch die Vernetzung der Polen untereinander und die Förderung der Integration, auf nationaler wie europäischer Ebene.
Mit knapp zehn Vereinen und Initiativen ist die polnische Community in unserer Stadt besonders aktiv und breit aufgestellt. Eine tragende Rolle spielt auch das renommierte, 1980 gegründete und in Darmstadt ansässige Deutsche Polen-Insitut, die zentrale Institution der Pflege deutsch-polnischer Beziehungen.
„Musik braucht keine Übersetzung“
Einer der aktivsten Vereine ist Salonik – übersetzt: kleiner Salon. Polen und Polen-Interessierte haben den Kulturverein 2004, im Jahr der EU-Osterweiterung, gegründet. Im Programm der deutsch-polnischen Kulturplattform finden sich Lesungen, Ausstellungen und Filmvorführungen. Herzstück sind jedoch die regelmäßigen Konzerte, denn: „Musik braucht keine Übersetzung“, wie die Vorsitzende Elżbieta Heller erklärt. Der Fokus liegt dabei nicht allein auf Polen, sondern auf Europa- und Weltkultur und deren enger Verzahnung mit der polnischen Kultur.
Elżbieta Heller kam 1990 zusammen mit ihrem Mann, der hier Arbeit gefunden hat, und ihren zwei kleinen Kindern nach Darmstadt. Ursprünglich wollten sie nur zwei Jahre hier leben. Jetzt, 16 Jahre später, ist sie in Darmstadt zu Hause und schmunzelt darüber: „Ich bin wie eine Blume. Meine Wurzeln sind in Warschau und meine Blüten in Darmstadt.“ Von anfänglichen Sprachbarrieren abgesehen, fühlte sie sich in unserer Stadt direkt wohl. Ausgegrenzt oder diskriminiert habe sie sich nie gefühlt. „In Deutschland sind die Menschen offen, aber zurückhaltend. Doch wenn sie merken, dass jemand etwas braucht, dann sind sie da. Das war eine wirklich schöne Erfahrung für mich.“
Im Unterschied zu heute stellt sie fest: „Das Interesse an Polen war anders.“ Sie meint damit: weniger stark. Denn in den 1990ern hätten sich Deutsche nicht besonders für ihr Nachbarland im Osten interessiert. Mittlerweile haben viele Polen als Urlaubsziel entdeckt, das Darmstädter Lichtenberg Gymnasium bietet Polnisch sogar als Fremdsprache an. Die gemeinsame Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat die beiden Länder schließlich noch näher zusammengebracht.
Bereits beim Nachwuchs setzt der Verein „Die Brücke“ an. Dessen Mitglieder bieten Kindern Polnischunterricht an, fördern Mehrsprachigkeit und veranstalten Feste, um polnische Traditionen und Kultur zu vermitteln. Auch wenn die meisten Vorkenntnisse mitbringen, ist jedes Kind zwischen drei und elf Jahren willkommen: „Wir schließen niemanden aus“, betont die Vorsitzende Lucyna Simon.
Doch nicht ganz unsichtbar
Lucyna ist auch Mitglied bei Krakowiak, einer Initiative, die sich mit Leidenschaft der polnischen Folklore widmet. Benannt haben die Gründer den Tanz- und Gesangsverein nach einem alten polnischen Volkstanz aus der Region um Krakau. Seit 1990 führen die Mitglieder in traditionellen Gewändern polnische Volks- und Nationaltänze auf. Unter anderem auf dem Heinerfest sowie dem alljährlichen polnischen Grillfest im Bürgerpark (Details dazu: in der Infobox). Ziel sei es, „die Wildheit, Schönheit und auch die melancholische Seite Polens in all seinen Gesichtern und Facetten zu zeigen, die bunten Trachten, die wilden Tänze und die schönen Frauen“, so Krakowiak-Mitglied Heinz Formel.
Dem Engagement dieser Vereine ist es zu verdanken, dass die polnische Kultur in Darmstadt dann doch nicht ganz unsichtbar ist. Auf die Frage, was Elżbieta sich von den Darmstädtern wünscht, antwortet sie: „Interesse an polnischer Kultur zu zeigen und sich zu fragen, was es bedeuten kann, die Kultur seines Nachbarlandes kennenzulernen.“ Die Antworten darauf liefert sie dann auf dem Grillfest Mitte Juni.
Polnisches Grillfest: Feiert alle mit!
Gegrillte Graupenwurst für den Hunger, Żywiec und Tyskie für den Durst. Diese und weitere Spezialitäten der polnischen Küche kannst Du beim polnischen Grillfest probieren. Dazu gibt’s mit Krakowiak traditionelle Volkstänze und mit Rock’Owiak rockige Livemusik für Ohren und Augen. Auch die Kinder des Vereins „Die Brücke“ haben ihren Auftritt. Nebenbei kannst Du auf dem Bücherflohmarkt shoppen und Neues entdecken, während die Kleinen in der Hüpfburg hopsen oder Sandbilder malen.
Grillhütte TG 1875 (Kranichsteiner Straße 183) | Sa, 11.06. | 15 Uhr | Eintritt frei
Deutsches Polen-Institut
1980 gründete der Schriftsteller Karl Dedecius das Deutsche Polen-Institut (DPI) in Darmstadt. Mit einem vielfältigen und interdisziplinären Programm aus Kultur- und Bildungsangeboten, praxisbezogener Wissenschaft sowie politischen Foren sollen nicht nur die deutsch-polnischen Beziehungen gepflegt werden. Ziel des DPI ist vor allem auch die Vermittlung und Vertiefung gegenseitiger Kenntnisse des Kultur- und Geisteslebens von Polen und Deutschen. Präsidentin des Instituts ist die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, Direktor der Historiker Dieter Bingen. Anfang des Jahres hat das DPI frisch sanierte Räume im Darmstädter Schloss bezogen, nachdem es seit seiner Gründung auf der Mathildenhöhe, im Haus Olbrich und (seit 1996 zusätzlich) im Haus Deiters, beheimatet war.