Nach 45 Jahren bekommt das „Bölle“ mit der neuen Haupttribüne gerade endgültig ein völlig modernisiertes Gesicht. Wir liefern zu diesem Anlass eine Hommage in Bildern an den altehrwürdigen Vorgänger, Baujahr: 1975.  |  Foto: Helmut Jost (Montageleiter bei Donges Stahlbau 1975)

 

Das neue „Bölle“ wird ein kleiner Hexenkessel. Mit vier Tribünen, die sich eng an die Spielfeldränder schmiegen. Liebesbekundungen und Schirischelte bohren sich tief in die Gehörgänge der Akteure auf dem Rasen. Es wird lauter als am alten Bölle. Intensiver. Direkter. Und doch bleibt vorerst auch noch dieses sentimentale Bauchgefühl. Die Sehnsucht nach dem aufregenden architektonischen Schwung der alten Gegengerade. Durch den man – optisch wie akustisch – auch immer mitbekam, was sich so im Gästeblock tut. Die Erinnerung an den Rutschhügel an der Seite. Die kickenden Kids unten am Zaun. Die pinkelnden Papas oben am Zaun. Und selbst der Rückblick auf die kastige alte Haupttribüne – diesen funktionalen Zweckbau, deren schnieker Nachfolger mit 19 VIP-Logen gerade erkennbar Form annimmt – sorgt für Schmetterlinge im Bauch aller Hardcore-Lilien-Fans.

Was haben die Anhänger des SV Darmstadt 98 nicht alles erlebt und zelebriert auf der altehrwürdigen „Haupt“. Süddeutsche Meisterschaften. Triumphe im (international zu unrecht total unterschätzten) Possmann-Hessen-Cup. Großartige Fan-Choreografien – unvergessen: die mobile Spielzug-Choreo vom A- bis hinüber zum F-Block … Pass … Schuss … Tor! Ahanfoufs bahnbrechendes 3:2 kurz vor Schluss gegen Hessen Kassel. Den Aufstieg vor (damals) sensationellen 17.000 Zuschauern im fiebrigen Bölle gegen Memmingen – und meine Worte an diesem 28. Mai 2011: „Baba, wie geil, endlich wieder 3. Liga … Genau unsere Kragenweite. Attraktive Gegner mit Tradition! Der SVD is wieder da!“, freute ich mich, um gedankenlos nachzuschieben: „Nur ein bisschen schade, dass ich – im Gegensatz zu Dir – garantiert nie im Leben mal ein echtes Bundesligaspiel am Bölle sehen werde.“ Da sprach ein echter Fußballexperte.

Wer aber konnte zu diesem Zeitpunkt die bevorstehenden Jahre voller Wunder vom Böllenfalltor (und eines von Bielefeld) auch nur ansatzweise vorausahnen?! Natürlich nicht ohne den – Dramaqueen Lilie – temporären Abstieg in die Bedeutungslosigkeit namens Regionalliga für einige Wochen. Der wiederum nur am Grünen Tisch und nur mithilfe des ärgsten „Rivalen“ und dessen Insolvenz rückgängig gemacht wurde. Hättste Dir alles nicht ausdenken können.

 

Retro-Baukran im Einsatz.  |  Foto: Helmut Jost (Montageleiter bei Donges Stahlbau 1975)
Rohbau (links), schon fast ferddisch (rechts).  |  Foto: Helmut Jost (Montageleiter bei Donges Stahlbau 1975)

 

So sitze ich im September 2015 im engen Presseraum unter der alten Haupttribüne, einer Art Partykeller mit darin deplatzierter Sponsorenwand, davor eine ausrangierte Schulbank für die Trainer und ein paar Stühle für die Journaille. Und stelle Bayern-Coach Pep Guardiola die Frage, ob er die Atmosphäre am Bölle auch als „so komisch“ wahrgenommen habe wie Hoffenheim-Trainer Markus Gisdol zwei Wochen zuvor. Weil hier selbst herausgeholte Einwürfe der Heimmannschaft frenetisch bejubelt werden wie Tore. Guardiola, der die Fragen davor zu Taktik und wer wann und warum nicht gespielt hat, gelangweilt bis routiniert beantwortet hatte, blickt plötzlich vom Mikrofon auf. Er visiert mich kritisch an, seine Augen funkeln. Mit Vehemenz antwortet der Mann im edlen Zwirn: „Komisch?!?? … Listen … !“ Kurz rutscht mir das Herz in die Hose. Doch dann folgt eine Liebeserklärung. Ans Bölle. Ein Monolog über seine Anfänge als Trainer in der vierten Liga, das „Szenario“ am Böllenfalltor, das „Wahnsinn“ sei. „Ich freue mich, hier zu spielen … das is Fußball! Das riecht nach Fußball! Die Kabine … das is Fußball … !“ Die Journalisten sind entzückt. „Guardiola liebt Darmstadts Stadion am Böllenfalltor!“, flötet die Sport Bild. Und selbst die Süddeutsche Zeitung nimmt Peps Emotionsausbruch zum Aufhänger ihres Spielberichts.

Guardiola, der so ziemlich beste Trainer der Welt, huldigte damals (nicht einmal sechs Jahre ist das jetzt her!) der Aura des alten, abgeranzten Bölle. In dem es in die Bratwurst reinregnete. In dem es zu wenige Klos gab, lange Zeit gar keine für Damen. In dem die Umkleidekabinen auch nicht komfortabler waren als in der Kreisklasse D, das Duschwasser manchmal kalt blieb. Diese Zeiten sind nun definitiv vorbei. Unwiederbringlich. Mal sehen, wie es sich anfühlen und klingen wird, wenn die Fans wieder zurückkehren ins Stadion. Ins (bald schon komplett) neue Bölle, in dem dann neue Lilien-Geschichte geschrieben wird. Bis dahin hilft nur: in Erinnerungen schwelgen.

 

Ei gude, Schöni: Sogar Bundestrainer Helmut Schön (rechts) kam 1975 zum ersten Spiel mit damals neuer, jetzt abgerissener Haupttribüne ins Städtische Stadion am Böllenfalltor.  |  Foto: Helmut Jost (Montageleiter bei Donges Stahlbau 1975)

 

Montageleiter Helmut Jost am Bau.  |  Foto: Helmut Jost (Montageleiter bei Donges Stahlbau 1975)

 

Richtfest!  |  Aus: Sonderbeilage des Darmstädter Tagblatts vom 08. November 1975

 

Von damals: heiße News vom Bölle!  |  Cover der Sonderbeilage des Darmstädter Tagblatts vom 08. November 1975

 

Aus alt mach neu: Zeitplan und Kosten der neuen Haupttribüne

– Start der Bauarbeiten im Sommer 2020: Abriss der alten Haupttribüne von 1975 (Entkernung und Rückbau des Dachs, alte Mauern und Betonwände weg, Fundamente raus), 4.000 Tonnen Beton und knapp 500 Tonnen Stahl werden abgetragen. Dabei entdeckt man Reste des Fundaments der ursprünglichen Haupttribüne von 1952, von denen laut Generalplaner Gunter Weyrich (1100:Architekten) aber „nichts mehr zu retten war“.

– Vergrößerung und Sicherung der Baugrube (Herbst 2020), neue Fundamente gießen (November 2020 bis Februar 2021), anschließend werden die Betonfertigteile samt der 18 Meter hohen Hauptstützen für die neue Tribüne errichtet. Seit Mai 2021 werden bereits die Tribünenstufen montiert. Anschließend erfolgt der Stahlbau, in dessen Zuge das Tribünendach angebracht wird.

– Der gesamte Rohbau soll im Sommer 2021 fertiggestellt werden, inklusive neuen Kiosken und Toilettenanlagen an der Nord- und Südkurve sowie einem „Medical-Center“.

– Die neue Haupttribüne wird circa 2.900 Besucher:innen Platz bieten. Aufgeteilt in: 19 Logen (für 250 VIPs), rund 900 Business-Seats, 50 Presseplätze, 53 barrierefreie Plätze (plus 53 Begleitpersonen) sowie 1.550 weitere Sitzplätze. Auf dem Dach der Tribüne ist zur Energieversorgung eine Photovoltaikanlage geplant.

– Kosten für den Neubau der Haupttribüne: rund 26,7 Millionen Euro. Gesamtkosten für den Stadionumbau inklusive der Gegentribüne und umfassender Umfeldmaßnahmen: 46,7 Millionen Euro. Die Stadt Darmstadt beteiligt sich an den Umbaukosten mit einem Investitionskostenzuschuss in Höhe von maximal 21 Millionen Euro, weitere 3,5 Millionen Euro steuert das Land Hessen bei. Die restlichen bis zu 22,2 Millionen Euro investiert der SV 98 mit Eigenkapital (4,2 Millionen Euro) und über Darlehen (18 Millionen Euro).

– Die Fertigstellung der Umbauarbeiten, die durch den Generalplaner 1100:Architekten begleitet werden, ist für den Beginn der Saison 2022/23 geplant. Das Fassungsvermögen des neuen Bölle wird 17.800 Zuschauer betragen (schade, doch nicht 18.980).

– Der Stadionbetrieb wird seit 2018 vom SV 98 beziehungsweise seiner 100-prozentigen Tochtergesellschaft, der SV Darmstadt 98 Stadion GmbH, verantwortet.

 

Visualisierung der neuen Haupttribüne  |  Grafik: 1100:Architekten