Illustration: Lisa Zeißler

 

„Inklusion ist, wenn jeder Mensch – mit und ohne Behinderung – überall und von Beginn an dabei sein kann. Menschen mit Behinderungen müssen sich nicht mehr integrieren und an die Umwelt anpassen.“ So erklärt Karsten Wiegand den Begriff „Inklusion“ im Vorwort des Programmhefts des Darmstädter Festivals „Alles inklusive ?!“. Ein Festival, das alle Menschen einbinden soll. Eine Herausforderung für die Veranstalter:innen – und eine Chance für unsere Gesellschaft.

Kultur für jeden Menschen erlebbar machen, unsere Gesellschaft lebendiger und bunter gestalten, die Vielfalt feiern: Unter anderem das soll mit „Alles inklusive ?!“ erreicht werden. 2020 aus bekannten Gründen verschoben, wird das Festival vom 27. April bis zum 17. Mai 2021 auf alle Fälle stattfinden. In diesem Zeitraum können inklusive Theaterprojekte besucht werden, Autor:innen sprechen zum Beispiel über Obdachlosigkeit oder Transgender, es gibt Gebärdensprachworkshops, einen „Wissenschaftstag“ zum Thema Einsamkeit und vieles mehr. Mit Veranstaltungen, die online und/oder draußen im Grünen laufen, sollen so viele Aktionen wie möglich realisiert werden. Hier sind kreative Lösungen und Spontanität gefragt, denn wie genau die Lage Ende April sein wird, ist wohl erst kurz vorher abzusehen.

Bei der ersten Ausgabe von „Alles inklusive ?!“ 2015 legten die Veranstalter:innen den Schwerpunkt darauf, Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung vor und auf die Bühnen des Festivals zu bringen. In diesem Jahr soll es noch einen Schritt weiter gehen, der Begriff der Inklusion wird aufgebrochen. Generelle Unterschiede in der Gesellschaft werden thematisiert: Armut, die Genderthematik, körperliche oder geistige Beeinträchtigungen – all das soll nicht mehr im Wege stehen, um Kultur zu erleben und selbst mitzumischen! Kurz und knapp: Inklusion heißt kulturelle Teilhabe für alle.

 

Inklusion praktisch umsetzen

Aber wie genau kann die akademisch geprägte Debatte über Inklusion praktisch umgesetzt werden? Kai Schuber-Seel und Nadja Soukup wollen mit ihren „Barrierecheckern“ nicht mehr über Inklusion diskutieren, sie wollen sie erlebbar machen. Die Menschen selbst sollen zu Wort kommen: Dafür schulen der Theaterpädagoge und die Schauspielerin des Theaterlabors Darmstadt diverse, unterschiedlichste Menschen, die in kleinen Gruppen (mit eventuellen Hilfspersonen) kostenlos das Festival besuchen und mit ihrem individuellen Blick feststellen, ob die Veranstaltungen wirklich inklusiv sind, oder was man verbessern könnte. Zwischendurch treffen sich die „Barrierechecker“, Zwischenstände werden ausgetauscht.

Besonders wichtig ist Kai und Nadja das gemeinsame Vorgehen: Die beiden Theaterleute wollen kein Konzept vorgeben, sondern ihre Gruppe am 22. April das erste Mal kennenlernen und prüfen, wo jeder steht. Dann soll spielerisch und nicht kognitiv erarbeitet werden, wie das Festival beobachtet werden kann. Genaueres kann und soll nicht geplant werden, „das Ganze ist ein Prozess, aber das ist ja auch das Spannende“, philosophiert Kai Schuber-Seel. Man muss also ausprobieren, am Ende wird vielleicht etwas ganz anderes rauskommen, als Kai und Nadja erwartet haben. Aber genau in diesem Prozess des „learning by doing“ und dem Einlassen auf die individuelle Gruppendynamik liegt der Reiz und das Besondere am Projekt „Barrierechecker“. Damit haben die beiden auch schon allerlei Erfahrung: Kai gehört zur freien Theaterszene in Darmstadt und arbeitet als Theaterpädagoge viel mit Kindern und Jugendlichen zusammen. Nadja hilft dabei, das Theaterlabor inklusiv zu gestalten, in dem Menschen mit geistiger Behinderung neben Profis auf der Theaterbühne stehen. Ihre Erkenntnis: Inklusion ist ein Gewinn für alle. „Bei uns ist es viel lustiger und lebendiger“, schwärmt Nadja davon, wie sich das Theaterlabor verändert hat, seitdem dort seit über 20 Jahren Inklusion groß geschrieben wird. Außerdem sollten wir endlich aufhören, Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung zu unterschätzen, betont sie.

Kai merkt kritisch an: „Inklusion ist erst dann erreicht, wenn man so ein Festival gar nicht mehr machen muss.“ Wäre also nicht eigentlich das Ziel, Inklusion gar nicht mehr explizit betonen zu müssen, weil sie bereits stattgefunden hat? Ja und nein, finden Kai und Nadja. Denn das Schöne an so einem Festival sei doch, dass die Vielfalt gefeiert wird. Vielfalt, die sich gegenseitig verstärkt und Schritt für Schritt alle Menschen viel mehr in unsere Gesellschaft einbindet. Schließlich stelle „die Gesellschaft die Barrieren – und nicht die Menschen, die irgendwas mitbringen, haben Barrieren“. Dessen müssten wir uns bewusster werden. Jede:r soll an der Gesellschaft teilhaben können, dafür trägt aber auch jede:r eine Mitverantwortung dafür, allen Menschen Teilhabe zu ermöglichen. So liegt die Chance des Festivals „Alles inklusive ?!“ und der Barrierechecker darin, „lustvoll die Gemeinsamkeit zu erleben“. Ob als geplanter Festivalbesuch oder zufällig reingestolpert: Jede:r kann Berührungsängste abbauen und Inklusion als Gewinn für unsere Gesellschaft erkennen. Gerade nach dem kulturarmen Jahr 2020, das für nicht wenige zeitweise mit Einsamkeit und Ausgrenzung verbunden war, haben die Leute Bock auf Kultur und Aktion. Jetzt sei also der perfekte Zeitpunkt, um „gemeinsam kleine Schritte zu gehen“, findet Nadja.

 

Lustvoll die Gemeinsamkeit erleben

Ihr und Kai steht dabei ein breites Repertoire an Tools zur Verfügung: Von Theaterpädagogik über Gruppendynamik bis hin zu intellektuellem Diskurs können sie sich alles als Werkzeuge für ihre Barrierechecker vorstellen. Letztendlich gehe es aber um einen lebendigen Austausch, etwas Kreatives, Aktionen, die Spaß machen und auf Freiwilligkeit basieren. Dabei sollen die Barrierechecker nicht als externe Beobachter:innen gesehen werden, sie sind ein lebendiger Teil des Festivals. Die Gruppe will gemeinsam etwas erarbeiten, was am Eröffnungstag vorgeführt wird, damit auch sie vom Publikum gesehen wird. Wie beim Festival ist auch hier jede:r willkommen, eine bunte Gruppe aus Menschen unterschiedlichsten Alters und mit unterschiedlichen Hintergründen wäre wünschenswert. „Wir erhoffen uns, dass diese bunte, diverse Gruppe diesen wirklich eher trockenen Begriff [Inklusion] mit Leben füllt. Auch für die Stadt und auch fürs Festival“, fasst Nadja zusammen.

Die Erkenntnisse der Barrierechecker sollen zeigen, was bei einer Veranstaltung wichtig ist, was Inklusion in der Praxis heißt, wo sich doch (noch) Barrieren aufgetan haben und was die Veranstalter:innen, die Stadt Darmstadt und unsere Gesellschaft in Zukunft positiv verändern können. So wird eine lebendige Mitbestimmung für alle erreicht: Inklusion.

 

Du wärst gerne Barrierechecker?

Melde Dich bis 05. April per Mail unter barrierechecker@theaterlabor-inc.com an und besuche kostenlos das Festival „Alles inklusive ?!“ als Barrierechecker.

Infos und das komplette „Alles inklusive ?!“-Programm mit seinen 14 über ganz Darmstadt verteilten Veranstaltungsorten findest Du online unter:

centralstation-darmstadt.de/alles-inklusive