Erhobene Zeigefinger sind unentspannt und spießig. Leute, die anderen erklären, was sie wie zu tun und zu lassen haben, gibt’s schon genug. Was aber tut der Motzki, der nicht anders kann? Er eskaliert. Das kathartische Wutschreiben im Zeichen des erhobenen MITTELfingers widmet sich dieses Mal … dem sogenannten Anwohnerschutzkonzept.
Verstopfte Straßen, Parkplatzmangel und zugestellte Gehwege. Besoffene Krakeeler, leere Flaschen und Wildpinkler vorm Haus. Schluss mit diesen unerträglichen Zuständen! Her mit dem Anwohnerschutzkonzept fürs Watzeverddel! Nein, schon klar: Das Anwohnerschutzkonzept, an dem die Stadt werkelt, zielt auf Steinberg- und Paulusviertel. Es soll bei Heimspielen der „98er“ die Anlieger von Verkehr, Lärm und anderen Begleiterscheinungen eines Bundesligaspiels entlasten. Im Gespräch und von einigen gewünscht sind Schranken, Kontrollen und Anwohnerausweise.
Einige Bürger der stadionnahen Viertel betreiben rege Lobbyarbeit, nutzen bevorzugt das „Echo“ als Sprachrohr. Aus Statements und Leserbriefen spricht Empörung. Man sei „bei Heimspielen absolut verloren“: zugeparkte Einfahrten, Betrunkene, die ihre Bierflaschen in Vorgärten entsorgten und ebendort hinpinkelten. Klar, dass die Hardliner deshalb gleich den Standort „Bölle“ infrage stellen. Von „Zumutung“, „Katastrophe“, „chaotischen Zuständen“ ist da zu lesen. Notarzt und Feuerwehr kämen im Ernstfall ja gar nicht durch!
Differenzierung tut not
Klingt wie kurz vor Notstand. Ist es wirklich so? Das eigene Erleben als „Lilien“-Spiel-Besucher deckt sich damit nur bedingt. Eine kleine Befragung anderer „Bölle“-Pilger und Anwohner nebst Anfrage bei der Stadt Darmstadt ergibt dieses Bild: Volle Straßen? Na klar. Fans auf Parkplatzsuche? Ja, ab drei Stunden vor Anpfiff. Verkehrschaos? Nichts, was den Namen verdient. Zugeparkte Einfahrten? Kopfschütteln bei den „Lilien“-Freunden, heftiges Nicken bei den Anwohnern. Lärm? Gebabbel oft, Gesänge regelmäßig, Grölen vereinzelt. Müll? Nicht wirklich; Auskunft der Stadt: „kein maßgeblicher Mehraufwand für die Reinigungen der Straßen in den betroffenen Vierteln“. Leere Flaschen? Aber hallo. Manche Buddel bleibt in den Wohnvierteln zurück, geschätzte 90 Prozent wandern unmittelbar am Stadion in die Tüten der Flaschensammler. Wildpinkler? Scheint es leider vereinzelt zu geben.
Ist es ein fröhlicher blau-weißer Bandwurm, der vorfreudig auf Fußball, Bratwurst und Bier gen „Bölle“ zieht? Oder ist es ein bedrohlicher Mob, der Krach, Urin und Anarchie über ein friedliches Wohngebiet bringt? Stadion-Gänger sind sich einig, dass es rund ums „Bölle“ im Vergleich zu anderen Fußballstä(d)t(t)en gesittet zugeht. Aber: Alles ist relativ, viel hängt von der Perspektive ab. Und dem gegenseitigen Wohlwollen.
Leben und leben lassen
Jede Großveranstaltung bringt Verkehr und Lärm mit sich – und Einzelne, die Regeln missachten. Einige wenige „Lilien“-Fans nehmen es an Spieltagen nicht so genau mit Anstand und Geboten. Einige wenige Anwohner dramatisieren die Situation, bauschen sie auf. Beide Gruppen haben berechtigte Interessen. Es gilt aber weder das Recht des Stärkeren noch geht es darum, wer medial die größte Welle macht. Die allermeisten der 16.000 Fans benehmen sich tadellos. Leben und leben lassen – so hält es auch das Gros der Anwohner. Problematisch und problematisiert wird die Situation durch egoistisches und unsoziales Verhalten der Minderheiten auf beiden Seiten. Fairness, Toleranz und Augenmaß täten hier gut.
Niemand neidet den Steinberg- und Paulusviertlern, dass sie in guter, ruhiger Lage leben. Die wenigen Lautsprecher erweisen sich aber einen Bärendienst, wenn sie den Eindruck erwecken, man wolle „da oben“ lieber unter sich bleiben. Abschotten passt so gar nicht in unsere Zeit. Und der Mehrheit der „Heiner“ wird nicht vermittelbar sein, was daran so schlimm ist, wenn es dort an maximal 20 Tagen des Jahres für fünf Stunden lauter als sonst zugeht.
Wildpinkler, Falschparker und rumstehende Flaschen sind nicht schön. Aber gibt es die wochenends nicht überall dort, wo „Leben uff de Gass“ ist? Heinerfest, Schlossgrabenfest und Riegerplatzfest, Herbstmess’, Flohmärkte oder Kerb – auch in anderen Vierteln wird Anwohnern regelmäßig Verständnis für Feiern und deren Nebenwirkungen abverlangt. Statt seinem angestammten Parkplatz finden Otto und Anna Normalheiner dann leere Flaschen und halbvolle Pommestüten vor der Tür. Ein Anwohnerschutzkonzept hat deshalb zwischen Oarhellje und Ewwerscht noch keiner gefordert.
Schlimmer wird’s nimmer
Wir leben nun mal in einer Stadt. Und zu der gehören die „Lilien“ wie Mathildenhöhe und Niebergall. Sie sind eine bundesweit bekannte Marke. So wie das „Bölle“, das seit 1921 dort oben steht – und Ende der Siebziger mal 30.000 Leute gefasst hat. Ob erste, zweite oder dritte Liga, 16.000 oder 19.000 Zuschauer: Heute und in Zukunft liegt die Stadionkapazität weit darunter. Nicht zuletzt übrigens, weil die Bedürfnisse der Anwohner in der Bauleitplanung schon berücksichtigt sind. Belastender als jetzt wird es für sie auch deshalb nicht, weil die Stadt sich um Verbesserungen bemüht. Es gibt vernünftige Vorschläge, die zum Teil schon umgesetzt werden: mehr Fahrradständer und Trams, Nutzung von Uni-Parkflächen, andere Verkehrsführung, Park-and-Ride.
Sicherlich könnten Stadt und Verein noch manch weiteres Zeichen setzen. Wie wäre das: Holt die Fan-Szene ins Boot und appelliert samstags gemeinsam an die Zuschauer, bei der An- und Abreise Rücksicht zu nehmen (wenn König Kommerz es fordert, kombiniert es meinetwegen mit dem obligatorischen Gewinnspiel in der Halbzeitpause). Oder initiiert tags darauf einen Rundgang durch die benachbarten Viertel, bei dem die letzten Flaschen eingesammelt werden. Dialog fördert Verständnis. Vielleicht lässt sich manch frustrierter Nachbar per Freikarte ins Stadion locken und sieht die „Lilien“ danach in einem anderen Licht.
Anwohnerschutzkonzept? Echt jetzt?
Ein „Anwohnerschutzkonzept“ in der diskutierten Form ist blanker Unsinn. Sperrungen, Schranken, Anwohnerausweise und Kontrollen, um am Wochenende temporär ein paar Nebenstraßen zu entlasten? Wo bleibt da die Verhältnismäßigkeit? Haben wir nicht gravierendere Verkehrsprobleme in Darmstadt (das P geht dem nach)? Die diskutierte Abschottung würde den Autoverkehr bestenfalls um ein paar hundert Meter verlagern. Zum Beispiel ins Woogsviertel, wo es ja bekanntlich eh keine Parkplätze mehr gibt – schon gar keine kostenlosen. Ein Abriegeln der Viertel ist in etwa so durchdacht wie der vier Meter hohe Grenzzaun, den Ungarn gerade hochgezogen hat, um Flüchtlinge abzuhalten.
Die Verkehrslage am „Bölle“ mit der Flüchtlingsproblematik zu vergleichen, ist unangemessen? Richtig! Flüchtlinge brauchen eine Bleibe, Nahrung, warme Klamotten, eben: Schutz. Solchen brauchen die Anwohner im Steinberg- und Paulusviertel nicht. Sie können sich selbst helfen. Das Anwohnerschutzkonzept ist Quatsch und wird nicht funktionieren – sagt übrigens selbst manch leserbriefschreibender Anwohner. Es bringt nichts. Es verschlingt Steuergeld. Keiner will es. Also: Bitte, Jochen Partsch und Cornelia Zuschke, erspart uns allen diesen Irrweg samt der unnötigen Kosten. Ab in den Papierkorb damit. Oder in die Schublade mit den nicht umgesetzten Verkehrsprojekten. Wenn darin noch Platz ist. Das Geld kann die Stadt anderweitig nachhaltiger einsetzen. Lasst die Kirche im Dorf – und das Bölle am Bölle.