Selbstverwirklichung! Das ist das Wort, das die Musik von Cherazade auf den Punkt bringt. Sehr gut und fresh klingende Selbstverwirklichung. Seit über vier Jahren bereichert die 28-jährige Künstlerin mit ihren 100 Prozent selbstgemachten Dreampop-Songs als Soloprojekt die Darmstädter Musikszene.
Mit einem Mix aus emotionalem Gesang und einer klanglich breiten Variation an Synthesizern lässt sie uns an der Verarbeitung ihrer Emotionen teilhaben. Ein wichtiges Motiv in ihrer Kunst ist die Emanzipation.
Alles selbst zu machen, sei für sie ein großer Schritt gewesen, um sich selbst zu verwirklichen und ihre Musik wirklich frei zur Entfaltung zu bringen. Nachdem Cherazade letzten Sommer ihr erstes Album „The Night Will Find You In The End“ rausgebracht hat, können wir uns auf weitere Lieder und Features freuen.
Und auf ihre Auftritte beim „Grabenlos“-Festival am 7. Juni in der Bessunger Knabenschule sowie am Heinerfestsamstag (5. Juli) bei „Heißes Pflaster uff de Piazza“!
Was bedeutet Darmstadt für Dich?
Zuhause! Ich fühle mich hier jetzt schon sehr heimisch. Vor zehn Jahren bin ich aus dem Odenwald nach Darmstadt gezogen. Ich wollte wohin, wo mehr geht! Und das hat dann auch mit der Uni gut gepasst [Cherazade studierte Germanistik, Politikwissenschaft sowie Data and Discourse Studies an der TU Darmstadt und promoviert dort gerade in Technikgeschichte]. Hier habe ich meine Strukturen. Für mich ist es ein Ort, an dem meine Leute sind, aber auch, wo ich arbeite und studiert habe und everything. Eigentlich alles, der ganze Lebensmittelpunkt.
Was waren Deine ersten Berührungspunkte mit Musik?
Ich mache Musik von Herzen gerne! Und ich fand Musik schon immer geil, von Baby an! Zum Schlafengehen wollte ich auch Techno-Lieder wie „King of My Castle“ vorgesungen bekommen, das musste dann meine große Cousine machen. Ich habe sehr früh Tasteninstrumente nahegelegt bekommen, erst ein Kinder-Keyboard mit drei Jahren oder so und später, mit sechs, Klavierunterricht. Meine Mutter war da immer sehr hinterher. Mittlerweile ist alles, was Tasten hat, mein Zuhause, besonders wenn es verschiedene Einstellungen hat wie Synths. Zum gemeinsamen Spielen kam ich auch schon in einer Schulband und dann in vielen Bandprojekten, in denen ich war. Meistens Punk oder Metal. Selber Musik zu machen, hat immer sehr Spaß gemacht, also sich zu überwinden und zu beweisen, dass man es kann.
Hast Du denn ein Vorbild?
Viele! Als Kind hat mich der Film „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ sehr inspiriert. Eines der Kinder, ich glaube es heißt Pierre, war mein frühestes musikalisches Idol. Dann später Amy Lee, Tarja Turunen und lange war es Grimes. Jetzt leider nicht mehr, aber gerade ihre früheren Sachen haben mich musikalisch sehr geprägt.
Synthies sind ein wichtiger Teil Deiner Musik, woher kommt dieser Fokus?
Ich glaube, in jedem einzelnen Lied benutze ich Synths. Weil Keyboards und Synthesizer viel mehr Soundmöglichkeiten haben. Ein Klavier fühlt sich zwar richtig an, weil ich es am längsten spiele, aber gerade die Presets, digitale Synths und deren Modifizierbarkeit geben einfach sehr viel klanglichen Freiraum. Es ist auch davon geprägt, was ich mir leisten kann. Ich habe momentan auch viel in Arbeit, das gitarrenlastig klingt, aber alles ist an Tasten entstanden. Mein neues Stagepiano wird in den nächsten Liedern auch eingespielt werden.
„Ich fand Musik schon immer geil, von Baby an“
Was ist Deine Motivation, Musik zu machen?
Selbstausdruck und ein gewisses Mitteilungsbedürfnis! Jahrelang hatte ich in Bands nur eine Art Sängerinnen-Rolle, aber keine aktiv mitgestaltende Rolle. Und irgendwann habe ich mir gedacht: „Das kann ich auch alleine!“ Ich brauche dafür keine Männer. Ich wollte schon immer Musik machen und jetzt habe ich teilweise Texte verarbeitet, die ich als Teenie geschrieben habe. Manch eine Sache, die man so mit 13 schreibt, ist gar nicht so doof! In den Bandprojekten konnte ich das nicht mit einbringen. Jetzt, in meinem Soloprojekt, kann ich dem so richtig Ausdruck verleihen und endlich eine Gestalt geben; für mich ist das ein bisschen wie ein Gemälde oder eine Collage aus Worten.
Du hast letzten Sommer Dein erstes Album rausgebracht. Wie entstehen denn Deine Lieder?
Ich habe sooo lange an dem Album rumgefeilt. Wenn ich Musik mache, fängt es an unterschiedlichen Punkten an. Meistens geht es erst zur Melodie und danach zum Text, teilweise kommt es aber auch gleichzeitig. Manchmal entstehen Lieder aus einem konkreten Gefühl, das ich in meiner Musik verarbeite. In letzter Zeit entstehen viele Lieder einfach aus Improvisation, wenn ich am Klavier sitze. Wenn ich eine Idee habe, dann muss ich direkt „FL Studio“ [Software zur Aufnahme und Bearbeitung von Tonmaterial] aufmachen und produziere es einfach in einem Schwung durch. Eine Rohfassung ist dann so nach einem Tag fertig. Und dann kommt die Tage drauf der Feinschliff, wenn ich Entscheidungen revidiere oder klanglich etwas anpasse. Mixing mache ich auch erst viel später – ich weiß anfangs oft gar nicht, was ich am Ende alles dabei haben werde.
Kann man sagen, dass Du Musik also praktisch in Deinem Kopf siehst?
Oft gehe ich zu Musik auf Gedankenspaziergänge. Eine Freundin von mir beschreibt das ganz gut: Sie schreibt Songs, indem Sie sich Landschaften vorstellt und dazu quasi cineastische Musik schreibt. Manchmal sehe ich es auch als Musikvideo, aber nicht mit mir, sondern mit zufälligen Sachen.
Wie ist es für Dich, auf der Bühne zu stehen?
Immer sehr aufregend! Aber es ist auch geil. Ich muss mich immer daran gewöhnen, zwei Songs brauche ich dafür so ungefähr. Und dann, wenn man drin ist, ist es immer schon viel zu schnell vorbei. Ich singe auch immer voll gern mit Leuten, gerade wenn sich nach Konzerten noch eine Jam-Session ergibt. Es macht einfach Bock, mit Leuten zusammen einen Chor zu bilden. Ich finde generell: Livemusik zu machen – egal in welcher Form – ist einfach geil. Wenn alle dabei sind, und man diese nonverbale Kommunikation hat und man merkt, dass das Publikum einen selbst spiegelt! Wenn du Angst hast, haben sie auch Angst, wenn du gut drauf bist, haben sie auch gute Laune. Aber ich hatte teilweise auch schon schlimmes Lampenfieber.
In Deiner Musik geht es viel um das Verarbeiten von Emotionen und das Neubesetzen negativer Emotionen mit positiven Bedeutungen; wie kamst Du zu diesem Schwerpunkt?
Ich bin „langweilig“ – ich ziehe meine Inspiration aus meinem Alltag. Zum Reflektieren und zum Verarbeiten von Sachen ist Musik für mich wichtig. Vieles ist irgendwie biografisch und handelt von verschiedenen Menschen, die dann in ein lyrisches Du gegossen werden. Dabei geht es eher darum, was es in mir ausgelöst hat und wie es mich verändert hat. In einer Weise ist es eine Selbst-Therapie, aber auch eine Form von Kommunikation mit anderen, weil ja andere meine Lieder fühlen und verstehen.
Was möchtest Du mit Deiner Musik erreichen?
Die richtigen Menschen! Ich möchte, dass sich andere Menschen nicht so allein fühlen. Ich freue mich immer, wenn meine Musik jemanden berührt. Ich mache es für die menschliche Verbundenheit. Das Schönste ist, wenn Leute meine Musik einfach verstehen! Ich höre ja alles an Musik, was ich in die Hände bekomme. Mittlerweile ist so vieles einfach so überproduziert, auf irgendeine Vorstellung des Hörer:innen-Geschmacks zugeschnitten und nicht mehr einfach so aus der Seele heraus. Ich habe das Gefühl, viele stecken in künstlerischen Korsetten fest, dass das Lied nicht lang sein darf, dass man mit der Hook anfängt und dass es auch auf Algorithmen angepasst ist. Mir tut es für alle leid, dass diese Einschränkungen existieren. Ich finde es am wichtigsten, dass die Musik für sich spricht!
„Ich lass mich ja bei allem möglichen inspirieren“
Welche Rolle spielt Social Media für Dich?
Ich finde Marketing halt einfach anstrengend und doof! An sich finde ich bilderbasierte Plattformen super, ich bin bis heute begeistert von Tumblr! Die müssen mich da rausziehen, damit ich aufhöre, dort zu posten. Aber im Großen und Ganzen finde ich Social Media sehr ermüdend. Ich brauche immer wieder Phasen, in denen ich mich aus dem Internet zurückziehe, um dem Druck und Gefühl zu entgehen, immer an sich erinnern zu müssen – und das ist super anstrengend! Häufig erlebe ich einfach, dass die Musik weniger im Zentrum steht als das Marketing. Und auch, dass gerade Instagram uns das Vergleichen mit anderen aufdrängt, ist einfach super lähmend. Und das geht allen so. Die Plattformen haben nicht das Interesse der Kunstschaffenden im Kopf, sondern die wollen einfach nur Werbung schalten und Geld verdienen. Das geht halt komplett vorbei an der Sache und deshalb wird es auch nie deliberativ befreiend sein. Ich habe Instagram auch nur wegen meiner Musik.
In welches Genre würdest Du Deine Musik einordnen?
Meine Freundin sagt immer, ich soll es Gothtune nennen und den Begriff einführen. Ich lass mich ja bei allem möglichen inspirieren, deswegen weiß ich gar nicht, wie ich es nennen würde … vielleicht „tasteninstrumentlastiger Shoegaze as Tumblr Core used to be a Ballerinababy“ … ja genau. [lacht]
Ist Deine Musik politisch?
Ja, also Musik enthält ja immer eine gewisse Ideologie … Das steckt bei mir immer eher zwischen den Zeilen. Es geht mir viel um Selbstemanzipation und sich Sachen nicht gefallen zu lassen. Das kann man sehr gut auch auf alle Menschen übertragen, das universelle Gefühl, sich nicht mit seinen Umständen abfinden zu wollen.
Und welche Rolle spielt Feminismus für Deine Musik?
Eine sehr große! Also allein vom Schaffen her schon, denn, alleine Musik zu machen, war schon ein krasser emanzipativer Schritt für mich. Davor stand ich immer im Schatten der Entscheidung männlicher Bandkollegen und konnte mich nur schwer kreativ einbringen. Ich wollte mich nicht mehr in den Schatten des Techno-Phallus stellen! Das ist ein stehender Begriff, den ich in einem tollen Paper gelesen habe, in dem es um die E-Gitarre als Männlichkeitssymbol ging. Das finde ich einen sehr guten Vergleich, denn es waren oft Gitarristen, die es einem als weiblich gelesene Person schwerer machen. Wenn ich männlich gelesene Freunde bei einem Auftritt dabei hatte, wurden diese oft gefragt, ob sie meine Songs produziert hätten und haben Komplimente für meine Musik erhalten. Dabei waren sie in dem Moment nur meine Gäste. Das ist schon sehr frustrierend.
FLINTA* [Frauen, Lesben, inter*, nicht-binäre, trans* und agender Personen] sind in der Musikszene auch in Darmstadt in der Minderheit, egal ob als Artist, Producer oder Tontechniker. Kannst Du uns von Deinen Erfahrungen erzählen?
Die einzige Tontechnikerin, der ich in meinen 22 Auftritten begegnet bin, war in Köln. Sonst haben das immer Männer gemacht. Ich komme mit denen meistens echt gut klar, aber es sind schon sehr wenige Frauen. Und auch in der Musikszene generell. Ich kenne viele Frauen oder generell FLINTA*, die selbst Musik machen und trotzdem nicht die Sichtbarkeit erfahren. Die kriegen viel weniger Auftritte und haben oft weniger Connections. Die meisten Headliner sind Männer. Da denke ich mir schon manchmal: Ihr könntet auch Platz für andere lassen. Ich finde es richtig frustrierend. In der Musikproduktion liegt der Frauenanteil ungefähr bei zwei Prozent. Selbst Acts wie Shirin David lassen sich ganze Alben von Männern aus der Perspektive einer Frau schreiben, bei ihr kommen die Texte von Laas Unlimited [einem deutschen Rapper]. Ich finde es richtig schade, dass es sich so viele einfach nicht selbst zutrauen. Ich habe das alles autodidaktisch gelernt, brauchte damals nur ’ne Grimes als Role-Model, bei der ich dachte: „Wooaah, ich will auch können, was die da macht!“
Wie begegnest Du dem Gender-Pay-Gap in der Musikszene?
Niemand redet über Gagen! Ich hab mich mit sehr wenigen und auch nur FLINTA*-Personen über Gagen ausgetauscht. Die Gage für Opener ist oft, auch bei sehr großen Artists, sehr klein. Aber eine hierarchische Struktur beobachte ich schon, wo es kleine Bands einfach deutlich schwerer haben als große. Es sind viele „Man rennt seiner Gage nach“-Momente, wenn überhaupt eine Gage ausgemacht ist. Natürlich habe ich auch schon für umme gespielt, weil es Soli-Konzerte waren und das ist auch richtig so. Aber sobald man Anfahrtskosten und Ähnliches dazu nimmt, ist es schon einiges, auf dem man dann sitzen bleibt. Das trifft natürlich kleinere Künstler stärker.
Welche Rolle spielt Musik für den Feminismus: Ist sie ein gutes Werkzeug, um Menschen zu überzeugen und politisch zu bilden – oder eher nur ein Weg, Gleichgesinnte zu versammeln?
Warum nicht beides? Musik ist ein wichtiges Sprachrohr für den Feminismus. Aber es wird auch viel komodifiziert, wie im Fall von Beyoncé zum Beispiel. Man muss schon schauen, ob die Politik übereinstimmt oder es nur Marketing und PR ist. Ansonsten finde ich „preaching to the choir“ gar nicht so schlecht. Man muss ja aus irgendetwas Kraft schöpfen und mit anderen in Resonanz bleiben. Musik ist sehr kraftvoll, weil sie in alle Richtungen strahlen kann: Sie durchdringt emotional, sie beeindruckt künstlerisch …
Wie könnte man FLINTA* den Einstieg in die Musikszene erleichtern?
Wir müssen mehr FLINTA* auf die Bühne bringen. Aber es gibt zu wenig Räume dafür, es gibt zu wenig Kulturzentren. Hier wird ja sowieso auch sehr vieles gespart oder soll abgerissen und umfunktioniert werden. Genau diese Orte sind es, bei denen FLINTA* überhaupt die Möglichkeit haben, auf eine Bühne zu kommen. Ich würde FLINTA*, die Musik machen wollen, raten: einfach machen! Nicht zu viel darüber nachdenken! Und bereit sein, an sich zu wachsen. Und sich nicht in den Hintergrund drängen zu lassen, dass man nur als hübsches Gesicht und Gesangsstimme wahrgenommen wird. Mehr Frauen sollten sich an die Musikproduktion trauen. Es war noch nie so einfach wie mit den digitalen Workstations heutzutage. Technik kann auch richtig emanzipativ genutzt werden!
Cherazade live „uff de Piazza“
Bitte schon mal vormerken: Am Samstag, 5. Juli, um 21.30 Uhr tritt Cherazade beim kleinen 5-Tages-Festival zum Heinerfest, das das P Stadtkulturmagazin und die Zoo Bar auf dem Stadtkirchplatz veranstalten, auf.
Vor und nach ihrem Auftritt legt die Unicorn Crew Synthpop, Italo Disco, 80s Dance & 90s Clubtracks auf.
Der Eintritt zu „Heißes Pflaster uff de Piazza“ ist an allen fünf Tagen frei.