Illustration: Daniel Wiesen

Anschnallen, wir reisen in die Zukunft und denken Darmstadt nachhaltiger, sozialer und kreativer. Das P zeigt, was geht und vor allem: dass es geht! Denn was in Darmstadt noch Zukunftsmusik ist, ist andernorts längst Gegenwart.

In Barcelona heißen sie „Superilles“, in London „Low Traffic Neighbourhoods“ und in Wien „Supergrätzl“. Hamburg plant „Superbüttel“, Berlin „Kiezblocks“ und Köln „Veedelsblocks“. Viele Namen für eine städtebauliche Innovation: Superblocks.

Im Frühjahr 2024, sollte auch Darmstadt endlich seinen ersten „Heinerblock“ bekommen. Im November 2023 hatte der Magistrat der Wissenschaftsstadt dem Verkehrskonzept „Lichtenbergblock“ zugestimmt … nur, um einen Monat später zurückzurudern: Die angespannte Haushaltslage der Stadt führe dazu, dass das Projekt mit mindestens zwei Versuchsphasen aktuell nicht umgesetzt werden könne, hieß es im Infoschreiben von Mobilitätsdezernent Paul Wandrey (CDU). Und auch wenn alle Verantwortlichen später beteuerten, der Superblock sei nur aufgeschoben, nicht aufgehoben – wenn er kommt, dann kommt er später (frühestens im zweiten Halbjahr 2024) und in nochmals reduzierter Form.

Wie viel Barcelona steckt in Darmstadts Superblock?

Barcelonas erster Superblock entstand 2017 im Arbeiterviertel Poblenou. Über Barcelona muss man zwei Dinge wissen: erstens, dass die Stadt von oben wie ein Schachbrett aussieht und zweitens, dass ihr noch vor wenigen Jahren Geldstrafen in Millionenhöhe vom Europäischen Gerichtshof angedroht wurden, weil die Werte für Lärm, Stickstoffdioxide und Feinstaub permanent über den EU-Grenzwerten lagen. Barcelona musste handeln und das Schachbrettmuster wurde zum Teil der Lösung.

Als Superblock wird ein Straßenblock von zwei mal zwei oder drei mal drei Häuserblocks definiert. Ein System von Diagonalsperren und Einbahnstraßen führt dazu, dass der Autoverkehr das Wohnviertel nicht mehr durchqueren kann. Fußgänger:innen und Radfahrer:innen haben Vorrang. Die verbleibenden Autos dürfen nur mit 10 bis 20 Kilometer pro Stunde ein- oder ausfahren. Der öffentliche Nahverkehr wird an den Außenkanten der Superblocks optimiert und der dadurch gewonnene Straßenraum neu genutzt: Es werden Bäume gepflanzt, Blumenkübel gesetzt, Parkbänke errichtet, Tischtennisplatten aufgestellt.

Die Folge: Durch Superblocks werden Straßen zum erweiterten Wohnzimmer. In Poblenou wurde der öffentliche Raum verdoppelt. Mehr als 300 neue Sitzbereiche und fast 2.500 Quadratmeter Kinderspielplätze entstanden. Heute hört man Kinderlachen statt Autolärm, atmet frische Luft anstelle von Abgasen und kommt mit der Nachbarschaft ins Gespräch. Konkret sank der motorisierte Verkehr um mehr als die Hälfte, der Anteil der Bäume im Viertel stieg um fast 90 Prozent. So konnten die Stickstoffdioxid-Werte laut Barcelona Global Health Institute um 24 Prozent gesenkt werden; die Lebenserwartung der Einwohner:innen stieg um fast 200 Tage.

Deutschland sucht den Superblock-Standard

Das Beispiel Poblenou zeigt: Superblocks sind nicht nur gut fürs Klima, sie machen Quartiere kühler, gesünder, sozialer und lebenswerter. Kein Wunder also, dass sich viele Menschen Superblocks auch in ihren Städten wünschen. In Berlin startete vor etwa dreieinhalb Jahren die erste Kiezblock-Initiative – inzwischen sind es 68. Und in 27 weiteren deutschen Städten gibt es heute Superblock-Aktionsgruppen.

Doch auch wenn sie allerorten „Superblocks“ heißen sollen, in ihrer Ausgestaltung sind sie ganz verschieden. Der Verein Changing Cities hat es sich zur Aufgabe gemacht, Superblock-Initiativen zu unterstützen und Standards zu entwickeln – damit der Begriff „Superblock“ nicht zur leeren Worthülse verkommt.

Anfang November 2023 präsentierte und diskutierte Changing Cities seine „Empfehlungen für Superblocks“. Menschen aus 27 Städten, aus Initiativen, Wissenschaft und Verwaltung waren dafür zur ersten deutschsprachigen Superblock-Konferenz ausgerechnet nach Darmstadt gekommen. Die Empfehlungen – nachzulesen unter changing-cities.org/standards – unterscheiden zwischen Mindest-, Regel- und Goldstandard.

Zum Mindeststandard gehört, die Straßen des Superblocks so zu verändern, dass sie von Anlieger:innen zwar weiterhin befahren, vom normalen Kfz-Verkehr aber nicht mehr durchfahren werden können. Konkretes Beispiel Lichtenbergblock: Hier wird die Liebfrauenstraße in der ersten Ausbaustufe durch gegenläufige Einbahnstraßen und in der zweiten Phase durch Sperrung auf Höhe des Lichtenbergplatzes so verändert werden, dass sie nicht mehr als Ausweichstrecke für den verstopften Rhönring nutzbar ist. Ebenfalls zum Mindeststandard gehört, wichtige Fuß- und Radverkehrsrouten zu optimieren, beispielsweise durch die Ausweisung von Fahrradstraßen, Querungshilfen für Fußgänger:innen, die Umgestaltung von Einmündungen oder Verbesserung des Witterungsschutzes an Haltestellen. Regel- und Goldstandard gehen darüber hinaus. Hier wird ein Großteil der bisherigen Parkplätze umgenutzt für mehr Pflanzen, mehr Spiel- und Sitzgelegenheiten, mehr Fuß- und Radverkehrsinfrastruktur.

Darmstadt kratzt am Mindeststandard

Welchem Standard wird Darmstadts erster Superblock entsprechen? „Wir kratzen am Mindeststandard“, kommentiert Johannes Rümmelein von „Heiner*blocks“ den Magistratsbeschluss. Heiner*blocks setzt sich für eine menschen- und klimafreundliche Stadt mit flächendeckenden Superblocks im Martins- und Johannesviertel ein. Im November 2021 berichtete das P erstmals über die Initiative.

Dass der erste Superblock trotz Beschluss der Stadtverordnetenversammlung, trotz umfangreicher Bürger:innenbeteiligung, trotz mehr als 2.000 Unterschriften von Anwohner:innen noch immer nicht in der Umsetzung ist, ist für Johannes nicht die einzige Enttäuschung: „In der ersten Phase sind selbst einfachste Maßnahmen wie Poller nicht vorgesehen.“ Der Magistratsbeschluss zählt auf: „Erhöhung der Verkehrssicherheit auf der Schulwegachse Lichtenberg-/Müllerstraße, das Unterbinden des Kfz-Durchgangsverkehrs in der Liebfrauenstraße, die Beseitigung des illegalen Gehwegparkens, Einbahnregelungen, Ausweitung des verkehrsberuhigten Bereichs, Sperrung der Durchfahrt für den Kfz-Verkehr des Lichtenbergplatzes und der Ausbau von Mobilitätsalternativen beziehungsweise die Förderung des Umweltverbunds.“ Heiner*blocks bemängelt, dass insbesondere die Beseitigung des schon immer illegalen, aber bislang geduldeten Gehwegparkens nichts weiter ist als die Umsetzung von geltendem Recht. Das soziale Potenzial von Superblocks werde nicht genutzt.

Die Kritiker haben sich verklagt

Bei aller berechtigten Ungeduld: Wie wichtig ein politisch sorgfältiges Vorgehen ist, zeigt wiederum das Beispiel Barcelona. Als die ehemalige Bürgermeisterin Ada Colau Superblocks im Schnellverfahren umsetzen ließ, um „die Stadt den Fußgänger:innen zurückzugeben“, beklagten insbesondere Autofahrer:innen und Geschäftsleute den mangelnden Dialog und klagten in der Folge gegen die Superblocks.

Ihre Sorgen erwiesen sich als unbegründet. Die Entschleunigung im Bezirk wirkte sich wirtschaftlich sogar positiv aus. Die Anzahl der kleinen Läden und Geschäfte in den umgenutzten Straßen stieg. Wenn es überhaupt ein Problem gab, dann dieses: Superblocks werten Quartiere auf. In der Folge steigen die Mieten und vertreiben ansässige, einkommensschwache Haushalte. Deshalb – auch das war Thema der Superblock-Konferenz – ist es wichtig, dass Superblocks großflächig eingesetzt werden, damit möglichst viele Viertel und Menschen vom Umbau profitieren. Auch für Darmstadt gilt: Es geht um mehr als den Lichtenbergblock! Johannes sagt: „Wir brauchen Superblocks in der ganzen Stadt.“

Barcelona musste auf dem Weg, 500 Superblocks zu realisieren, jüngst einen Rückschlag einstecken. Und damit sind wir zurück bei den klagenden Geschäftsleuten. Im September berichtete „Zeit online“ über das Urteil eines Verwaltungsgerichts in Barcelona. Das befand: Für so eine tiefgreifende Veränderung hätte zunächst der Generalplan der Stadt verändert werden müssen. Teilen der Superblocks droht nun der Rückbau – zum Leidwesen von Anwohner:innen und einstigen Kritiker:innen. Ironie des Schicksals: Jetzt protestieren sie nicht mehr gegen den Superblock, sondern gegen das Urteil zur selbst eingereichten Klage.

Besser lässt sich das Dilemma der politischen Entscheidungsträger:innen nicht beschreiben: Hört man zu viel auf die Kritiker:innen, scheitern Superblocks noch vor dem Start. Hört man zu wenig auf sie, scheitern sie ebenfalls. Für die Heinerblocks wünscht das P viel Sorgfalt und noch mehr Mut!

Online-Umfrage der Stadt

Bis zum 29. Februar können Anwohner:innen des Lichtenbergblocks und alle weiteren Heiner an einer Online-Umfrage der Stadt teilnehmen. Gefragt wird nach dem aktuellen Mobilitätsverhalten und Wünschen für den Lichtenbergblock. Infos unter darmstadt.de/heinerblocks

Heiner*blocks

Von Studierenden bis zu Rentner:innen – die engagierten Bürger:innen von Heiner*blocks setzen sich für ihre Vision von einem freundlicheren Darmstadt auf Basis des Superblock-Konzepts ein. heinerblocks.de

Changing Cities

Changing Cities e. V. fördert zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Mit dem Volksentscheid „Fahrrad in Berlin“, gelang es Changing Cities 2016, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Heute unterstützt Changing Cities e. V. landes- und bundesweit Bürger:inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen.
 changing-cities.org

Anna und Tobi haben Lust auf Stadt mit Zukunft!

Wir sind Anna Groos und Tobias Reitz. Einst schrieben wir im P Magazin über unsere Küchenexperimente („Iss was!“). Heute experimentieren wir beruflich wie privat mit der Zukunft von Leben und Arbeit. Eines dieser Experimente führte uns 2021 ins nordhessische Homberg (Efze), wo wir mit 20 anderen Klein- und Großstädter:innen Co-Living und Co-Working auf dem Land testeten. Jetzt sind wir zurück in Darmstadt und haben richtig Lust auf Stadt mit Zukunft.