Foto: Jan Ehlers

Wie war das noch mal? „Die Sonne scheint. Die Menge tobt und wartet auf ein Lilien-Tor. Olé, olé, ola.“ Nun ja, wenn die Menge derzeit tobt, dann wohl eher zu Hause. Geisterspiele sind das Gebot der Stunde. Die Fans gucken im wahrsten Sinne in die Röhre. Seien wir ehrlich: Fußball, wie wir ihn lieben, ist das nicht. Da fehlen einem gar die Besserwisser-Sprüche auf der Gegengerade. Lilien-Fan Hans-Volker Arras hat etwas gegen diesen Phantomschmerz unternommen: Er hat ein imaginäres Lilienspiel auf CD kommentiert. Mit Sprüchen, wie sie jeder von uns nur zu gut vom Bölle kennt.

Wenn alles wie geplant verläuft, dann rollt in diesen Wochen auch am Böllenfalltor wieder der Ball im Ligabetrieb. Wie in der ganzen Republik jedoch ohne den zwölften Mann. Die Lilienfans bleiben coronabedingt außen vor. Stattdessen bevölkern unzählige Pappkameraden die Plätze, auf denen normalerweise die Dauerkartenbesitzer stehen. Ein Versuch, den Jungs in Blau und Weiß einen Rückhalt von den Rängen zu vermitteln. Es ist und bleibt aber eine gespenstische Atmosphäre. Und so, wie sich die Dinge aktuell darstellen, droht noch länger Ungemach. Spiele ohne Zuschauer scheinen bis ins nächste Jahr hinein das wahrscheinliche Szenario zu sein.

Sie werden fehlen, unsere Spieltagsrituale


Lieb gewonnene Spieltagsrituale bleiben damit bis auf Weiteres auf der Strecke. Der Fußmarsch zum Stadion, dem sich wie von Geisterhand immer mehr Fans anschließen, je näher man dem Bölle kommt. Dabei Gespräche mit den Freunden führend, mit denen man schon lange gemeinsam zu den Spielen geht. Gespräche über Alltägliches, die Lilien und das anstehende Spiel. Das Anstehen vor den Kassenhäuschen. Das Grüßen von Bekannten hier, der kurze Plausch mit Freunden da. Das Sichern der Stadionwurst und eines Kaltgetränks. Der Gang zur Gegengerade und das Ansteuern des Bereichs, von dem aus man sich stets das Spiel anschaut. Das Mitleiden mit dem Team. Das Nachtrauern vergebener Chancen. Das Ausbuhen eines gegnerischen Spielers, der sich zum Affen macht. Der frenetische Jubel, wenn dann doch noch das herbeigesehnte Tor fällt. Nach dem Schlusspfiff das kurze Verweilen auf der Tribüne. Das Einreihen in den Strom der Lilienfans hinter der Südtribüne. Die gründliche Nachbesprechung des Erlebten hinter der Haupttribüne. Der Gang zurück in die Stadt, der sich anfühlt als hätte der Stadionbesuch nach einer langen Arbeitswoche eine Reset-Taste gedrückt. All das fehlt.

Es gibt sie alle: Vom Schwarzmaler bis zum Fußballtaktiker


Vielleicht wird uns in den nächsten Monaten sogar das Meckern und Gezeter derjenigen fehlen, die sonst mit uns die Gegengerade bevölkern: die notorischen Schwarzmaler, die lauten Krakeeler, die emsig Mitteilsamen, die belesenen Fußballtaktiker, die ewigen Schiri-Hasser und die bierseligen Mitsänger. Manchmal ist das alles nur schwer zu ertragen, aber oft genug zieht einen das Geschehen auf dem Platz dann doch so sehr in seinen Bann, dass man darüber hinweghört.

Dem Fan aufs Maul geschaut

Hans-Volker „Hennes“ Arras hat nicht weggehört. Er hat präzise zugehört. Der Heiner geht schon seit Ewigkeiten zu den Lilien. Schon als die Eintrittskarte nur 30 Pfennige kostete. Der Opa nahm ihn seinerzeit mit und es war um ihn geschehen. Sein Zuhause am Bölle ist die Gegengerade. Und der alten, Ende 2018 abgerissenen, hat er nun ein kleines akustisches Denkmal gesetzt. Seine verspätete Hommage „Stehplatz – Spielbericht eines Dauerkartenbesitzers“ ist gerade im Darmstädter Ralf-Hellriegel-Verlag auf CD erscheinen. Er nimmt seine Hörer dabei mit auf einen imaginären Spieltagsbesuch. Beginnend beim Wochenendeinkauf vor dem Spiel bis hin zum Verlassen des Stadions nach der Partie. Der treue Lilienfan vertont allerhand Sprüche, die ihm in all den Jahren durch seine Stehplatznachbarn zu Ohren gekommen sind. Er ordnet sie Prolos zu, dauerrauchenden Meckerrentern, noch unerkannten Trainern und einer großen Anzahl von Besserwissern. Wobei er ehrlich eingesteht, dass er selber einer ist.

Viel Gemecker … mit einer Prise Herz

So gibt er auf knapp 40 Minuten in feinstem Darmstädterisch das wieder, was jeder von uns nur zu gut kennt: Viel Gemecker, eher sparsames Lob, aber mit einer Prise Herz. Dabei wird klar, dass auf der Tribüne einfach alles kommentiert wird, was sich auf dem Rasen abspielt. Naturgemäß geht es nicht immer politisch korrekt zu. Wenn etwa der gegnerische Stürmer veräppelt und über den Schiri hergezogen wird. Oder wenn die Liliengemeinde am eigenen Stürmer genauso verzweifeln wie am Innenverteidiger der 98er. Groß geschrieben wird unter den Fans dabei stets der Konjunktiv: Hätte, wäre, wenn gehören zum festen Vokabular eines jeden Stadiongängers. Und auch so manche Binse findet sich in den Ausführungen: „Mir brauche lang Null“ oder „Oaner is noch koo gut Mannschaft“. Arras versäumt es zugleich nie, ein Augenzwinkern einzustreuen. Etwa wenn er einen Anhänger nach einem Distanzschuss zitiert: „Von so weit hammer noch nie so knapp driebergeschosse.“ Oder wenn ein anderer anerkennend feststellt: „Der hot mehr Gefiehl im große Zeh, wie annern in de rechte Hand.“

„Fußball is halt schee an sich“


Am Ende haben die Lilien in Hennes Arras‘ Aufnahme das Spiel auf den letzten Drücker umgebogen. Die Fans quittieren das froh und erleichtert, aber auch gewohnt kritisch: „Unser misse halt a bisse denke. Mit em Kopp!“ Zum Schluss stellt Sprecher Arras nach seinem Parforceritt ganz persönlich fest: „Fußball is halt schee an sich.“ Ob das die Lilienfans in den nächsten Monaten so sehen werden, darf ohne Stadionerlebnis bezweifelt werden. Wer aber die Sprüche der Besserwisser, Meckerrenter und Prolos von der Gegengerade vermisst, der darf gerne zur Stehplatz-CD von Hennes Arras greifen.

Aktuelle Infos zum weiteren Saisonverlauf und Stadionumbau unter sv98.de

 

Lilien-Stadion-Hörspiel-Reportage

„Stehplatz – Spielbericht eines Dauerkartenbesitzers“ von und mit Lilienfan Hans-Volker „Hennes“ Arras ist ab sofort für 9,80 Euro auf CD erhältlich (drei Euro davon gehen ans Nachwuchsleistungszentrum der Lilien). Im Direktvertrieb über den Ralf-Hellriegel-Verlag am Haardtring 369, Telefon: (06151) 880063.

ralf-hellriegel-verlag.de

 

Matthias und der Kickschuh

Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!

kickschuh.blog