Foto: Herbert Krämer

So langsam geht sie für die 98er zu Ende, die insgesamt fünfte Zweitligaspielzeit in den letzten zehn Jahren. Nimmt man die zwei Jahre Bundesliga hinzu, dann blickt der SVD auf eine sportlich erfolgreiche Dekade zurück. Den Grundstein dafür legte nicht etwa der Relegationskrimi in Bielefeld, sondern ein Hessenderby am Böllenfalltor vor zehn Jahren.

Der 16. April 2011 war ein frühlingshafter Samstag. In Darmstadt führte er zahlreiche Fußballbegeisterte ans Bölle, wo sich die 98er über ein für Viertligaverhältnisse gut gefülltes Stadion freuen durften. 8.600 Zuschauer wollten das Regionalliga-Topspiel zwischen dem SVD und dem souveränen Tabellenführer sehen, der knapp 1.500 Fans im Schlepptau hatte. Dass es sich dabei um den KSV Hessen Kassel handelte, ließ bei allen Lilienfans den Puls höher schlagen. Denn die Duelle gegen den langjährigen Kontrahenten aus Nordhessen hatten es traditionell in sich. Unvergessen jenes 3:4 aus dem Jahr 2004, bei dem sich die beiden Kunstschützen Michael Anicic und Slawomir Chalaskiewicz ein persönliches Duell um den besseren Standardspezialisten lieferten. Das letzte Wort hatte, sehr zum Leidwesen des SVD, der Gästekicker per 40-Meter-Freistoßtor.

Vieles sprach also vor zehn Jahren für ein feuriges Aufeinandertreffen der beiden hessischen Klubs. Die Ausgangslage war klar: hier die Lilien, die sich allmählich in der Spitzengruppe festgebissen hatten, aber immer noch einige Punkte hinter Kassel rangierten. Dort der Ligakrösus, der seit über einem halben Jahr vom Platz an der Sonne grüßte. Wie schön wäre es also, dem Rivalen in die Aufstiegssuppe zu spucken. Doch das Spiel schlug zunächst die völlig falsche Richtung ein. Das erste Stadionbier war noch nicht geleert, da stand es nach neun Minuten schon 2:0 für Kassel. Party on im Gästeblock, reichlich Frust im restlichen Rund.

Ein Hoch auf einen Platzverweis

Doch nur sieben Minuten später kam wieder ordentlich Stimmung in die Bude. Was war passiert? Gästekapitän und Ex-Profi Enrico Gaede unterschätzte einen lang geschlagenen Ball und wusste sich vor dem eigenen Strafraum nur durch ein überaus ungelenkes Handspiel zu helfen. Jeder, der sich die Slapstick-Aktion vor Augen führen möchte, der kann gerne Youtube bemühen. Dort ist die Zusammenfassung des Hessischen Rundfunks zu finden. Logische Konsequenz: rote Karte, da Gaede eine klare Torchance durch Lilien-Stürmer Oliver Heil vereitelt hatte. Augenblicklich ahnten alle: Da geht noch was.

Zwar blieb der anschließende Freistoß durch Jung-Lilie Yannick Stark in der Mauer hängen und auch die energischen Nachschüsse prallten vom Abwehrbollwerk der Gäste ab, doch die Hoffnung war wieder da. Umso mehr, als mit dem Wiederanpfiff der ersehnte Anschlusstreffer fiel. Uwe (Süd-)Hesse schlug eine Bogenlampe an den Fünfmeterraum, Kassels Torwart kollidierte mit einem Mitspieler und Henry Onwuzuruike bedankte sich als lachender Dritter per Kopfballtor. Die 98er blieben am Drücker und Oliver Heil jagte zehn Minuten später den Ball von der Strafraumgrenze vehement in die Maschen: 2 zu 2!

Ab auf die Aschenbahn

Um den Nachmittag perfekt zu machen, fehlte also nur noch ein Treffer. Doch der wollte und wollte nicht fallen. In der 88. Minute segelte dann ein Freistoß vor das Tor der Gäste. Am Fünfmeterraum kam Abdelaziz Ahanfouf per Abpraller an den Ball, blieb aber zunächst an einem Gegenspieler hängen. Doch der Angreifer agierte im Fallen gedankenschnell und bugsierte die Pille am verdutzten Keeper vorbei ins Netz. Wenige Momente später lag Ahanfouf schon wieder, allerdings vor einem schier ausrastenden A-Block im Staub der damals noch vorhandenen Aschenbahn. Über ihm seine Mitspieler. What a feeling! Die nordhessische HNA schrieb nach dem Match: „Ahanfouf, der Neuzugang zur Winterpause. Es schien, als hätten sie ihn nur für dieses eine Tor verpflichtet.“ Nun fast. Ahanfouf erzielte in seinen sieben Partien für die 98er tatsächlich zwei Tore. Aber das gegen Kassel war Gold wert.

Die Gäste kassierten in den verbleibenden Minuten zwar kein Tor mehr, dafür aber einen weiteren (Frust-)Platzverweis. Kassels Abwehrspieler Jens Grembowietz gab nach dem Abpfiff zu Protokoll, dass er das Spiel wohl auch ein paar Tage später nicht begreifen würde, während Gästecoach Mirko Dickhaut den Spielverlauf „brutal“ nannte. Für alle Lilien war er dafür umso schöner. Was denkbar schlecht begonnen hatte, wurde dank des frühen Platzverweises zu einer erfolgreichen Aufholjagd. Und so ganz nebenbei zu einem Fanal im Saisonendspurt. Während die Lilien nur noch Siege sammelten, geriet das zuvor so souveräne Hessen Kassel komplett aus der Spur. Der SVD holte noch 18 Punkte, Kassel sieben. Am Ende hatte der SVD den Rivalen um acht Punkte distanziert. Etwas, das vor dem direkten Aufeinandertreffen undenkbar schien.

Die Wege trennen sich

Was dann folgte, ist weithin bekannt: Die Lilien spielten drei Jahre in der 3. Liga und seit 2014 immer mindestens zweitklassig. Ein Ausweis des Aufschwungs ist das Bölle, das im nächsten Sommer nicht nur mit der neuen Gegen-, sondern auch mit einer topmodernen Haupttribüne aufwarten wird. Für Hessen Kassel hätte es kaum schlechter weitergehen können. Sie klebten in der Regionalliga fest, bis eine Schuldenlast und ein damit verbundener Insolvenzantrag sie in die Hessenliga führte. Seit dieser Saison spielen sie immerhin wieder viertklassig.

So lässt sich mit Fug und Recht sagen, dass ohne das 3:2 vom 16. April 2011 die Geschichte der 98er anders verlaufen wäre. Nicht zuletzt deshalb sei allen gedankt, die, von Erfolgscoach Kosta Runjaic angeleitet, an jenem Samstag die Lilie auf dem Trikot getragen haben: Jan Zimmermann – Tunay Acar, Cem Islamoglu, Jonas Grüter, Markus Brüdigam (Fouad Brighache) – Uwe Hesse, Yannick Stark, Boris Kolb (Sascha Amstätter), Henry Onwuzuruike – Daniele Toch (Abdelaziz Ahanfouf), Oliver Heil.

 

Nie mehr 3. Liga!

Fr, 07.05., 18.30 Uhr: Hannover 96 – SV Darmstadt 98

So, 16.05., 15.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – 1. FC Heidenheim

So, 23.05., 15.30 Uhr (letzter Spieltag der Saison 2020/21): Holstein Kiel – SV Darmstadt 98

 

Neu: Behinderten- und Rehabilitations-Sportabteilung

Der SV Darmstadt 98 bekommt Zuwachs: Seit April 2021 gibt es eine Fußball-Mannschaft für intellektuell beeinträchtigte Personen (Fußball-ID). Organisiert wird dieses Team innerhalb einer neu gegründeten Behinderten- und Rehabilitations-Sportabteilung. Teil der neuen Abteilung wird auch ein eigenes eFootball-Team für intellektuell beeinträchtigte Personen sein.

Der SV 98 ist der erste deutsche Profifußballklub, der eine solche Mannschaft bei sich integriert. Die Mannschaft wird in der vom Hessischen Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband e. V. (HBRS) organisierten Hessenliga antreten. Trainieren und spielen wird das Fußball-ID-Team auf dem Vereinsgelände des TSV Eschollbrücken.

sv98.de

 

Matthias und der Kickschuh

Seit Ende 2011 schreibt Kickschuh-Blogger Matthias Kneifl über seine große Leidenschaft: den Fußball. Gerne greift er dabei besonders abseitige Geschichten auf. Kein Wunder also, dass der studierte Historiker und Redakteur zu Drittligazeiten begann, über die Lilien zu recherchieren und zu schreiben. Ein Resultat: das Taschenbuch „111 Gründe, den SV Darmstadt 98 zu lieben“, das (auch in einer erweiterten Neuauflage 2019) im Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag erschienen ist. Seit Juli 2016 begleitet Matthias gemeinsam mit vier Mitstreitern die Lilien im Podcast „Hoch & Weit“. Genau der richtige Mann also für unsere „Unter Pappeln“-Rubrik!

kickschuh.blog