Fanprojekt 0205
Foto: Jan Ehlers

Seit jeher gibt es eine vielfältige Fanszene am Böllenfalltor. Im derzeit meist ausverkauften „Bölle“ bilden die einzelnen Fangruppen über das Stadion verteilt kleinere oder größere Enklaven: mehr oder weniger organisiert, mehr oder weniger lautstark, jede für sich aber wichtig für die Stimmung im Stadion. In einer neuen Artikel-Reihe werfen wir einen Blick auf die organisierte Darmstädter Fanszene.

Besonders engagiert, originell und lautstark präsentiert sich seit Jahren der F-Block (Haupttribüne links außen), besser bekannt als „Block 1898“. Die Gruppe „Ultrà de Lis“ ist ein Teil dieses selbstverwalteten Blocks. Mit ihren Megaphonen sind die überzeugten „Lilien“-Ultràs Tim Strack (28) und Oliver „Olla“ Spengler (28) die Taktgeber für gemeinsame Gesänge, die mittlerweile oft das gesamte Stadion erfassen. Mit ihnen sprachen wir über die jüngsten Erfolge der „Lilien“, die Folgen des Erfolgs, ihre Definition als „Ultràs“ und das heiße Derby mit einem Verein jenseits des Mains (den Namen wollte seltsamerweise niemand in den Mund nehmen).

Der Anfang

Tim: Wir begannen ursprünglich 2003 [nach dem Abstieg in die Oberliga, Anm. d. Red.] als „Ultràs Darmstadt“. Vor uns gab es bereits die „Ultràs 2000“, die sich aber 2002 wieder auflösten. Wir waren alle so 16 bis 17 Jahre, also im zarten Alter, im harten Kern 15 bis 20 Leute. Wir haben uns gut organisiert, um uns Gehör zu verschaffen. Mit der Vereinsführung gab es dann auch gleich erste „Sitzungen“ … allerdings sehr bizarre.

Oliver [lacht]: Kaffeestückchen beim Uwe Wiesinger [damals Präsidiumsberater des SVD]. Das war um 2004 herum. Da gab es dann aber auch erste verbale Schüsse und Spruchbänder gegen das Präsidium.

Fortan also keine Kaffeestückchen mehr. Anfangs hatten die Ultràs übrigens keinen festen Standort am „Bölle“. Auf der Suche nach einem kompakten, stimmungsstarken Fan-Block probierte man sich an vielen Plätzen im Stadion – auch im bereits traditionell lautstarken A-Block.

O: Das war aber dort ein Generationen- und Stil-Konflikt. Wir sind da anfänglich mit Mann, Maus und Choreografie im A-Block eingekehrt, haben uns aber wie Bauerntrampel verhalten. Das war echt ungeschickt. Bei einem Spiel ausgerechnet gegen den OFC [auch noch 0:1 verloren] hatten wir unsere Choreo ziemlich verhauen und die Leute dort verärgert. Wir hatten bildlich die brennende Stadt Offenbach abgebildet. Dabei bröckelten Plastik-Sachen von dem Choreo-Zeugs ins frische Bier der A-Block-Leute … [kleinlaut] Da haben wir gemerkt: Das passt nicht.

T: Aber das war okay, die Fanszene ist vielschichtig – wie die Stadt. Da ist für jeden was dabei. Als wir damals aus dem A-Block rausgegangen sind, haben wir uns ja nicht im Bösen getrennt, sondern einfach in dem Bewusstsein, dass es nicht ganz passt. Bei den Heimspielen braucht eben jede Gruppe ihren eigenen Freiraum, damit es wirklich gut klappt. Auswärts dagegen steht man meist zusammen und das funktioniert ziemlich gut – anders als bei anderen Vereinen.

Nach dem Aufstieg 2011/2012 in die 3. Liga lösten sich die „Ultràs Darmstadt“ auf. Es gab vermehrt Repressalien und Stadionverbote vom Verein. Und man war sich intern uneins: Manche wollten mehr Politik im Stadion, andere gar nicht. Manche wollten sich nach dem Spiel mit dem Gegner „erlebnisorientiert“ messen, andere nicht. Nach einem halben Jahr innerer Einkehr bildete sich aber aus den Bruchstücken die umso aktivere Gruppe „Ultrà de Lis“. Zusammen mit der großen Fangruppe „Usual Suspects“ [auch bekannt als „Allesfahrer“ (AFD)] sowie einigen kleineren Gruppierungen bilden sie den selbstverwalteten „Block 1898“.

T: Gemeinsam mit den Usual Suspects hatten wir die Idee eines selbstverwalteten Stimmungsblocks. Ein kompakter Block von Fans, der auch komplett durchdrehen kann, wenn das Spiel gut läuft. Der eigene Block ist eben unser Freiraum, in dem zum Beispiel keine Polizei steht, sondern nur ein eigens ausgebildeter Ordnungsdienst.

Besonderes Augenmerk gilt den originellen Choreografien, die sich immer aufwendiger gestalten, aber umso mehr kosten.

T: Oh ja, ein großes Thema: Für uns ist das eine Mischung aus Kunstform, Geschenk an den Verein und eine Form des Wettbewerbs mit den Ultrà-Gruppen anderer Vereine. Wenn dem Gästeblock die Augen vor Staunen aus dem Kopf fallen, haben wir alles richtig gemacht. Und alles auf reiner Spendenbasis. Die Spendenbereitschaft ist in Darmstadt zum Glück extrem hoch. Wir können da immer wieder nur Danke sagen. Unsere Ansprüche sind mit dem sportlichen Erfolg natürlich gestiegen. Wir machen das ja meist zusammen mit den „Usual Suspects“. Früher ging es immer nur um den eigenen kleinen Block, mittlerweile planen wir ja größenwahnsinnig immer das ganze Stadion mit ein.

T [grinst]: Schreib das aber bitte nicht so rein.

[das P lügt eiskalt]: Nee klar, streichen wir.

In unseren Augen die beste Heimspiel-Choreo: 115 Jahre „Lilien“ (vorm Pokalmatch gegen Gladbach am 04.08.2013, Endergebnis 5:4 im Elfmeterschießen.)
In unseren Augen die beste Heimspiel-Choreo: 115 Jahre „Lilien“ (vorm Pokalmatch gegen Gladbach am 04.08.2013, Endergebnis 5:4 im Elfmeterschießen.) Foto: Usual Suspects

T: Für mich persönlich stehen Freundschaft und Zusammenhalt ganz oben. Der sportliche Erfolg ist fast zweitrangig. Manche Fangruppen wirken eher wie eine zusammengewürfelte Musikkapelle. Wir „Ultràs“ definieren uns dagegen als eigener Mikrokosmos, der auch funktioniert, wenn wir ganz andere Sachen machen. Für mich wie eine zweite Familie.

O: Das Wichtigste für mich ist: Den kritischen Blick behalten und sich die Freiräume wieder erkämpfen, falls nötig. Die Bindung zum Verein ist dadurch auch besser geworden, weil wir als große Gruppe dann eben auch gehört werden. Früher sind wir mit unserer Haltung, politisch aktiv zu sein, nach außen gegangen. Mittlerweile wollen wir das nicht mehr permanent so plakativ machen, sondern immer angemessen reagieren, wenn etwas anliegt. Das bringt inhaltlich viel mehr.

T: Politik und Fußball grundsätzlich zu trennen, passt überhaupt nicht zusammen. Fußball war, ist und bleibt politisch, wie alles politisch ist, was die Gesellschaft betrifft. So sind wir alle klar antifaschistisch, antirassistisch und antihomophob eingestellt. Aber wir versuchen einfach, mehr inhaltlich als modisch zu agieren. Also nicht nur „Refugees welcome“-Plakate hoch zu halten, sondern auch aktiv zu werden [es gibt unter anderem einen wöchentlichen Kick-Treff mit Flüchtlingen].

Es gibt aber auch bisweilen Kritik, wegen Eurer Dauerbeschallung beim Support zum Beispiel.

T: Ich denke, jeder hat seine Art, das Spiel zu verfolgen. Der eine emotionaler, der andere nüchterner. Aber es wäre doch schade, am „Bölle“ nur den gegnerischen Fan-Anhang zu hören. Das wäre eine Niederlage auf der Tribüne. Wir haben das Böllenfalltor stimmlich zu verteidigen und das überträgt sich auch auf die Mannschaft, wie sie ja immer wieder in Gesprächen und Interviews betont. Aber wir wollen da niemandem etwas aufdrücken.

Wie seht Ihr die Entwicklung der letzten zwei Jahre?

O: Die ganze Fanszene befindet sich wie in Trance. Dieser Run auf die „Lilien“ ist unglaublich. Aber es ist schon schwierig mit manch neuem „Fan“. Niemandem kann man vorwerfen, irgendwann mal anzufangen. Aber man sollte eben nicht gleich so auftreten, als wäre man schon immer dabei.

T: Da liegt auch eines der vielen Probleme, die wir mit der Masse an neuen Leuten im Stadion haben. Die wollen oft nur noch dieses „Schaa lalalala“ wie am Ballermann intonieren, aber sind nicht Fan genug, sich von anderen Liedern mal zwei Zeilen zu merken. Das finde ich durchaus kritisch.

Worauf freut Ihr Euch diese Saison besonders?

O: Es gibt ja eigentlich nur noch Höhepunkte, aber eines toppt natürlich alles: das Derby [gegen die Eintracht aus Frankfurt]. Das Maß aller Dinge.

Das heikle Thema Stadionneubau

Wie ist die bisherige Planung für Euch im Rückblick gelaufen und was tut sich noch?

T: Also ich bin massiv enttäuscht darüber, wie viel Mitspracherecht im Vorfeld versprochen und wie wenig davon eingehalten wurde. Mit dem Verein hatten wir anfänglich auch Streit, haben da aber eine Kompromiss-Lösung zu Gunsten des Vereins gefunden, also uns auf 10.000 Sitzplätze eingelassen, obwohl das irgendwann nicht mehr sinnvoll sein wird, wenn das Interesse nachlässt.

O: Die Stadt hat uns teilweise an der Nase herumgeführt. Es scheint irgendwie egal zu sein, was wir sagen oder machen. Wir werden nie als Experten angesehen, immer nur vereinfacht als „die Fans“. Denen ist eine große Polizeizentrale im Stadion scheinbar wichtiger als die Gesamtstimmung. Ich bin da sehr wütend. [Olles Wut dürfte sich mittlerweile etwas gelegt haben. Denn aktuell geht „die Stadt“ stark auf Vorschläge des Fanbündnisses ein – zum Beispiel, was die Aufteilung von drei der vier Tribünen im neuen „Bölle“ angeht: unten stehen, oben sitzen.]

T: Wir sind ja alle nicht vom Fach, aber man hat die Sichtweisen von anderen Stadien und kann zumindest beurteilen, was funktioniert – auch soziologisch. Es müsste ähnlich sein wie bei St. Pauli oder Union Berlin, wo die Vielfalt erhalten wurde. Wenn wir den Charakter dieses Vereins und der Stadt behalten wollen, muss sich das auch im Charakter des Stadions widerspiegeln. Ansonsten verpufft künftig die ganze Image-Kampagne des „Wir sind anders“. Auf jeden Brandschutz-Gutachter wird aber mehr gehört als auf die Fans, die die Atmosphäre ausmachen. Das ist frustrierend.

Das ideale Stadion für Darmstadt?

O: Alles so belassen. Also zumindest gleiche Anordnung und Form.

T: Nur ein Dach drüber ziehen, damit es nicht ins Bier reinregnet.

O: Ja, „Bölle“ mit Dach. Das reicht mir. Wir spielen jetzt noch ein Jahr in der höchsten Klasse und fast alle Fußballfans und auch die Presse bundes-, teils europaweit schwärmen von unserem Stadion, weil es so sehr aus dem Plastik-Einheitsbrei heraussticht. Wenn das nicht mehr ist, unterscheidet uns nichts mehr. Und dann interessiert sich auch keiner mehr für uns.

 

Die internationale „Ultràs“-Bewegung

Die Ursprünge der „Ultrà“-Bewegung lassen sich nur ansatzweise datieren: Entstanden in den 1950ern und 1960ern in Italien als Teil der Studentenbewegung, die die fanatische Energie ihrer politischen Straßenkämpfe zunehmend auf die Stadion-Tribünen ihres jeweiligen Lieblingsvereins verlagerte. Die ersten deutschen Ultràs-Gruppen tauchten Mitte der 1980er auf, die große Welle hierzulande entstand aber erst Ende der 1990er. In Abgrenzung zu manch unpolitischen oder rechtslastigen Hooligan-Gruppen engagieren sich die meisten deutschen Ultràs-Gruppen vehement im Kampf gegen Rassismus und Homophobie.

 

Deutscher Meister wird nur der SVD!

Fr, 02.10., 20.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – FSV Mainz 05

Sa, 17.10., 15.30 Uhr: FC Augsburg – SV Darmstadt 98

Sa, 24.10., 15.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – VfL Wolfsburg

Di, 27.10., 20.30 Uhr: SV Darmstadt 98 – Hannover 96 (DFB-Pokal, 2. Runde)

So, 01.11., 15.30 Uhr: VfB Stuttgart – SV Darmstadt 98

www.sv98.de