Foto: Jan Ehlers
Foto: Jan Ehlers

In diesem Monat versteh ich echt nur Bahnhof. Wer ist nicht schon freudig pünktlich zur Rush Hour am Darmstädter Hauptbahnhof mit einem Zug aus einer benachbarten Großstadt angekommen und hat vom Zug bis zum Bahnhofvorplatz länger gebraucht als die eigentliche Zugfahrt? Kennen wir alle, denke ich, doch wieso bekommt so ein Bahnhof für seine Unökonomität (ja, das Wort hab ich mir eigens dafür ausgedacht) auch noch einen Preis? Diese Frage stellen sich sicher 20.000 von 30.000 Pendler täglich, wenn sie wieder knapp die Straßenbahn verpasst haben.

Sandra H. aus M. möchte wissen: „Liebe Vicky, was macht den Darmstädter Hauptbahnhof zum „Bahnhof des Jahres 2010“?“

Puuuuh … diese Frage stelle ich mir jedes Mal, wenn ich mich zusammen mit drei anderen mir unbekannten Personen durch eine der grünen Eisentüren quetsche – vorbei an dem goldenen Schild mit der Aufschrift „Bahnhof des Jahres 2010“. Bis zur Tür war es bereits ein unsäglicher Kampf und schon vor Beginn des Unitages musste man sich gegen tausend Andere durchsetzten. Am besten fange ich aber mit der ehrenwerten Auszeichnung an.

Gleich vorweg: Die Stadt Darmstadt hat entweder eine gehörige Summe springen lassen oder die Jury war blindtaubstumm. Der Preis „Bahnhof des Jahres“ wird jährlich von der „Allianz pro Schiene“ verliehen und ehrt damit die kundenfreundlichsten Bahnhöfe Deutschlands.Über Schönheit lässt sich bekanntlich streiten, doch muss ich als alte Nörglerin zugeben: Die Vorhalle des 1912 erbauten Bahnhofs kann sich durchaus sehen lassen. Hätte sich der Darmstädter Bahnhof bei „Germanys next Bahnhof“ beworben, hätte er sicher auch bei mir gute Karten auf eine Auszeichnung gehabt. Doch leider kommt es bei einem Bahnhof nicht nur auf Äußerlichkeiten an, auch die inneren Werte zählen hier – ja, vor allem die. Die Jury lobte den Innen- und Außenauftritt des Bahnhofs, welcher bei den Mitgliedern eine „heiter gelassene Grundstimmung“ erzeugte. Dieses Urteil lässt folgende Rückschlüsse auf den Zeitpunkt des Besuches ziehen: ein lauschiger Sommertag, ich schätze, ein Sonntag morgen gegen 8 Uhr. Der Bahnhof sei direkt an einem Park gelegen und somit Deutschlands grünster Bahnhof, vermeldet die Jury.

In den drei Jahren, die ich nun schon hier verweile, habe ich noch nie jemanden in der vermeintlichen Parkanlage zwischen der zweispurigen Straße und den Straßenbahnschienen sitzen sehen. Diese erscheint mir – und dem Rest der Stadt anscheinend auch – wenig einladend. Vielleicht waren die Experten auch mehr von der rekonstruierten Schmuckbeetanlage für 250.000 Euro betört. Wahrlich habe ich diese pompöse Grünanlage vor den Recherchen für diesen Text noch nie wahrgenommen.

Wären die Bahnhofstester mal Montag morgens um 8 Uhr – wohlgemerkt an einem kalten Dezembertag – Gucken gekommen, würde dieses goldene Schild sicher nicht zwischen den beiden Türen hängen. Wenn es sehr kalt ist, ist die Menschenmenge, die sich mit einem selbst zum Zug oder von diesem weg über die viel zu engen Treppen schiebt, wirklich von Vorteil, da man wenigstens auf dem glatten Boden nicht ausrutschen kann. Was den Bodenbelag kombiniert mit Nässe oder Frost angeht, bin ich etwas traumatisiert. Da ich in meinen drei Jahren Darmstadt-Erfahrung schon den ein oder anderen Sturz gesehen habe, bin ich mir sicher, dass ich mit meinem Trauma nicht alleine dastehe.

Da es aber auch nicht das ganze Jahr friert oder regnet, kann der Menschenklumpen, der sich vom Bahnsteig zum Vorplatz schiebt, sehr lästig sein. Dieser Effekt wird in Darmstadt durch das gleichzeitige Ankommen aller Züge noch verstärkt und erreicht morgens zwischen 8 und 9 Uhr und abends zwischen 16 und 19 Uhr seinen Höhepunkt.

Wer all das vermeiden möchte, das Budget für einen Privatjet aber nicht hat, sollte sich rechtzeitig an der richtigen Tür im Zug platzieren (nämlich die, die sich genau an der Treppe öffnet), sich rutschfeste Schuhe anziehen und nach der Einfahrt lossprinten. Oder man findet sich damit ab: Verstopfungen gehören eben zu dieser Stadt, wie zu Frankfurt der Main.

Fragvicky2